Helge LindhSPD - Sterbehilfe
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Trotz der aus unserer Sicht unberechtigten Vorwürfe, wir würden mit unserem freiheitlichen Entwurf keine Prävention wollen und nicht das Leben schützen wollen, haben wir bisher, denke ich, in den vergangenen Monaten sehr zurückhaltend argumentiert. Ich denke aber, wir müssen das jetzt offensiver tun.
Gestern sprach mich ein Taxifahrer an. Anlass waren eigentlich die Debatte und die Entscheidung über § 219a; aber er sprach mich auch auf den assistierten Suizid an, den er befürwortet. Er berichtete von einer 90-jährigen Frau aus seiner entfernten Nachbarschaft, die sich, nachdem ihr Mann verstorben war – und sie selbst war schwer krank; wie schwer, ist nicht klar –, einsperrte, dies mitteilte und sich zu Tode hungerte.
Wie gehen wir damit um? Wenn wir Beratungsmöglichkeiten haben, wie wir es vorsehen, besteht die Möglichkeit, dass sich diese grausame Form des Todes nicht wiederholt. Aber wir haben keine Gewissheit, dass sie sich anders entschieden hätte. Wenn ihr eine entsprechende Beratung und umfassende Aufklärung angeboten worden wären, hätte die Chance bestanden, dass sie sich für das Leben entschieden hätte und nicht für den Tod. Aber wir wissen es nicht.
Wir können es nicht gewähren, und wir wollen es auch nicht gewähren und sicherstellen können; denn wir müssen am Ende akzeptieren, dass der Moment kommen kann, in dem jemand sich selbstbestimmt entscheidet – aus Motiven, über die er oder sie selbst entscheidet –, aus dem Leben zu gehen. Das müssen wir ermöglichen, und wir müssen es auch assistiert ermöglichen; das hat uns das Verfassungsgericht aufgegeben.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)
Ich erinnere auch an einen beeindruckenden Bericht in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ über die Familie des ehemaligen Berliner Staatssekretärs Mark Rackles, der mit seinen Geschwistern Melanie und Jennifer die Eltern Cynthia und Rolf über Jahre begleitet hat. Am Ende gingen sie gemeinsam in den Suizid. Das ist kein romantisierender und kein dämonisierender Bericht. Er macht zwei Dinge deutlich: Die Geschwister – und es war für sie ein schweres Ringen – sind am Ende immer noch der Meinung, dass es richtig war, auf diesem Weg zu begleiten – trotz allem. Aber vor allem wird an diesem Bericht deutlich, dass wir uns in unserer Gesellschaft gegenwärtig nicht darauf verstehen und keinen Weg gefunden haben, mit Menschen umzugehen, die die Entscheidung treffen wollen und am Ende auch treffen, die sich wünschen, ihr Leben selbstgewählt, mit Unterstützung zu beenden. Das ist eine große Leerstelle, und wir führen die Debatte seit dem Verfassungsgerichtsurteil, wenn wir ehrlich sind, nicht breit und gesellschaftlich. Aber wir hätten das in dieser Form tun müssen.
Deshalb ist für uns Folgendes klar: Wir halten den Weg über das Strafgesetzbuch, über das Strafrecht nicht für gangbar und für grundlegend falsch.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP und der LINKEN)
Wir halten es auch nicht für richtig, ein Werbeverbot über einen § 217a – dem § 219a nachgebildet, dessen Aufhebung wir ja vorhin beschlossen haben – zu erlassen. Wir halten es für sinnvoll, das vertrauliche Verhältnis zwischen Arzt/Ärztin und Person ins Zentrum zu stellen. Wir sind auch noch nicht überzeugt und sehen auch Probleme in der Abgrenzung zwischen medizinischer Notlage und anderen Situationen, weil auch das Verfassungsgericht deutlich gemacht hat, dass wir nicht über Motive zu richten haben und dass nicht fremddefinierte, materielle Kategorien entscheidend sein dürfen. Zudem ist es eine Abgrenzungsfrage.
Vor allem aber stelle ich folgende Frage: Was für ein Menschen- und Gesellschaftsbild haben wir? Es ist doch nicht so, dass wir uns in einem Verrechnungsverhältnis von Palliativmedizin, Hospizbewegung, Prävention und assistiertem Suizid bewegen. Nein, zusammen ist das zu denken.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der FDP und der LINKEN)
Und wieso gehen wir oft davon aus, dass Menschen – auch wenn uns das nicht gefällt, auch wenn wir uns dagegen wehren – am Ende, auch wenn es sozial nicht angemessen sein mag, eine solche Entscheidung nicht treffen bzw. treffen können? Wir können nicht von unserer eigenen Befindlichkeit ausgehen, sondern müssen diese zutiefst persönliche Entscheidung in ihrer persönlichen Form wahrnehmen und sehen. Dabei müssen wir diejenigen unterstützen und beraten, die sich dafür entscheiden, diejenigen, die noch nicht entschieden sind, aber auch diejenigen, die helfen, statt sie der Gefahr der Strafbarkeit auszusetzen.
Deshalb ist es aus meiner Sicht notwendig, in diesem Moment an jemanden zu erinnern, der uns leider verlassen hat, nämlich Peter Hintze, der vor vielen Jahren in einem, glaube ich, sehr eindrucksvollen Statement als Wuppertaler Abgeordneter der CDU Folgendes gesagt hat:
Wir wollen, dass am Sterbebett nicht Staatsanwälte stehen, sondern Angehörige und Ärzte.
Wir wollen mit unserem Entwurf erreichen – das sage ich für uns alle –, dass wir Ärzte und Ärztinnen, dass wir Angehörige, dass wir Betroffene, die entschieden sind oder auch noch mit ihrer Entscheidung ringen, nicht alleinlassen. Wir wollen, dass ihr Leben geschützt wird, –
Kollege, kommen Sie zum Schluss.
– dass wir ihnen aber auch beistehen in ihrer Freiheit, nach ihrem Gewissen zu entscheiden, in ihrer Selbstbestimmung, die für uns eine Anstrengung, eine Zumutung ist, die wir aber aushalten und ertragen müssen – ja, wir müssen es. Genau das wollen wir, und deshalb bitten wir um Ihre Unterstützung.
Vielen Dank.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der FDP und der LINKEN)
Vielen Dank, Herr Kollege Lindh. – Als nächste Rednerin erhält das Wort die Kollegin Kirsten Kappert-Gonther für die Gruppe „Castellucci und andere“.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD, der CDU/CSU und der FDP)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7537801 |
Wahlperiode | 20 |
Sitzung | 45 |
Tagesordnungspunkt | Sterbehilfe |