07.07.2022 | Deutscher Bundestag / 20. WP / Sitzung 47 / Tagesordnungspunkt 17

Helge LindhSPD - Antisemitismusskandal bei der documenta

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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Niemand, der sich ernsthaft um Kultur und den kulturellen Austausch bemüht, will und wird leichtfertig die Documenta beerdigen – erst recht nicht im Glauben, damit würde man den Antisemitismus verschwinden lassen. Das bedeutet aber im gleichen Atemzug auch, zu sehen, dass in der Ukraine, auf russischem Boden, auf polnischem Boden und in vielen anderen Ländern Millionen von Juden an Gräben gestellt wurden, von Deutschen und ihren Kollaborateuren hingerichtet wurden und ihre Verwandten nie die Möglichkeit hatten, diese Toten zu beerdigen. Das ist die Dimension, die wir aufmachen müssen; und die ist weit größer als jede Form von parteipolitischen Geländegewinnen. Mit dieser Frage müssen wir uns – erstens – auseinandersetzen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Zweitens nehme ich Bezug auf die Begründung von Ruangrupa. Von deren Seite wird gesagt, man entschuldige sich für die Angst und den Schmerz, den man verursacht hat. Das verkennt aber massiv die reale Angst und den realen Schmerz derjenigen, die an den Gräbern standen, und ihrer Nachkommen – damals, in der Vergangenheit, und in der Gegenwart. Deshalb geht es hier nicht um Gefühle und Befindlichkeiten, um dieses Verständnis von Schmerz, Angst oder oberflächlicher Betroffenheit, sondern es geht um Fakten, Tatsachen, Institutionen, Realität und Geschichte. Und die Geschichte sagt: Antisemitismus tötet. „ Stürmer“-Karikaturen und ähnliche Bildsprachen ebneten den Weg und haben am Ende dafür gesorgt, dass Menschen ermordet wurden. Auch das gehört ins Zentrum dieser Debatte.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Drittens. Wir müssen die Frage der Kunstfreiheit, denke ich, ganz radikal angehen. Es ist eine Verkürzung, wenn wir sagen: Kunstfreiheit hat die Grenze der Menschenwürde. – Das machen wir manchmal. Aber wir tun dann so, dass es den Bereich der Kunst gibt, und wenn es ans Eingemachte geht, gibt es eine Grenze. Ich glaube aber, wir können wagen, den Umfang von Kunstfreiheit ganz radikal zu sehen, und dann sagen: Innerhalb dieser Kunstfreiheit müssen wir uns angucken, wie mit Menschenwürde umgegangen wird.

Wenn wie bei dieser Documenta Kunst von den Kuratoren, letztlich auch von den Kollektiven, begriffen wird als Aktivismus, als Aktion, als eher eine politische Tat denn als Kunst, dann müssen sie sich zwingend dieser politischen Beurteilung und dieser politischen Dimension stellen – ohne Frage. Wenn sie das tun und wenn sie zunehmend auch diese Dimension einnehmen, dann relativiert das auch die Frage der Kunst, und es wird eine politische Debatte. Und diese haben wir hier zwingend zu führen.

Das bedeutet auch, dass wir innehalten müssen, wenn wir an den Satz des Generalsekretärs Botmann des Zentralrats der Juden denken, der gestern sagte, dass in jüdischen Reihen zum Teil die Auffassung bestehe, dass der Aspekt „Forschung“ beim Zentrum für Antisemitismusforschung wegfallen würde. Sprich: Er sagte „Zentrum für Antisemitismus“ und stellte den Forschungsaspekt infrage. Ich will gar nicht über den Sachverhalt urteilen. Aber das zeigt uns doch, welche Dimension die Debatte hat und mit welcher Ernsthaftigkeit, mit welcher klaren Position, welcher klaren Haltung, aber auch mit welcher entsprechenden Deutlichkeit wir diese Auseinandersetzung jetzt führen müssen.

Das bedeutet auch, dass wir nicht leichte Geländegewinne machen, indem wir gucken: Wie können wir jetzt die Chance nutzen – das zeigt ja der AfD-Antrag –, um die ganze Debatte über Postkolonialismus und Rassismus abzuräumen? Wie dämlich, wie klein und wie dumm ist das! Nein, wir müssen andere Beispiele nehmen. Ich nenne hier „Pop-Kultur“ in Berlin. Beim Festival von „Pop-Kultur“ hat man erlebt, dass israelische Künstler, weil ihre Anreise vom israelischen Staat mitfinanziert wurde, jedes Jahr massiv boykottiert wurden; auch dieses Jahr wird es wieder dazu kommen. Das ist inakzeptabel. Das ist in diesem Land nicht hinnehmbar.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Gitta Connemann [CDU/CSU])

Aber die Antwort von Katja Lucker und anderen von „Pop-Kultur“ ist souverän. Die Antwort ist nicht: „Schluss mit dem postkolonialen Diskurs!“, sondern: Wir laden jedes Mal wieder israelische Künstlerinnen und Künstler ein. Wir beugen uns dem nicht, und wir führen die Auseinandersetzung,

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

und zwar – das ist für mich der zentrale Punkt – nicht mit Gefühlen, Befindlichkeiten und Betroffenheiten, nicht in Form des Kitsches, wie das leider in den Debatten, die in Kassel geführt wurden, versucht wurde, sondern als ernsthafte Auseinandersetzung, –

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

– die wir in diesem Land brauchen, über die Frage von Kunst und Antisemitismus, über unser Verhältnis zu Israel, aber nicht in Form einer Verrechnung von Rassismus und Antisemitismus, sondern indem wir beides zusammendenken. Das sind wir diesem Land schuldig, und das sind wir besonders den Jüdinnen und Juden, die sich diese Bilder antun mussten, schuldig.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP – Dorothee Bär [CDU/CSU]: Nur eine Beschreibung! – Gitta Connemann [CDU/CSU]: Was ist Ihre Konsequenz? – Gegenruf des Abg. Karsten Hilse [AfD]: Gar keine Konsequenz!)

Vielen Dank, Herr Kollege Lindh. – Nächster Redner ist der Kollege Dr. Marc Jongen, AfD-Fraktion.

(Beifall bei der AfD)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7538189
Wahlperiode 20
Sitzung 47
Tagesordnungspunkt Antisemitismusskandal bei der documenta
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