08.07.2022 | Deutscher Bundestag / 20. WP / Sitzung 48 / Zusatzpunkt 23

Alexander Graf LambsdorffFDP - Gesetzentwurf NATO-Beitritt Finnland und Schweden

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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Staatsminister Lindner hat es eben gesagt: Man muss mit dem Wort „historisch“ vorsichtig umgehen; aber ich glaube, wir sind uns alle einig: Der NATO-Gipfel von Madrid mit seiner Einladung zur Aufnahme ins Bündnis an Schweden und Finnland war ein historischer Gipfel.

Der Abschied Finnlands und Schwedens von der traditionellen Neutralitätspolitik ist ein so dramatischer Wendepunkt in der Geschichte beider Länder, dass ich am Anfang meiner Ausführungen noch einmal illustrieren will, was das eigentlich bedeutet. Finnland wurde von Hitler und Ribbentrop, so wie die baltischen Staaten auch, der Sowjetunion zur Eroberung freigegeben. Finnland musste seine Unabhängigkeit in einem blutigen Winterkrieg 1939/40 behaupten. 70 000 Menschen haben ihre Gesundheit oder ihr Leben dort verloren. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Finnland in eine Neutralität gezwungen, die es aber dann angenommen, gefüllt und gelebt hat. Es hat sie nach dem Untergang der Sowjetunion 1991 fortgesetzt, weil zu diesem Zeitpunkt, in den 90er-Jahren, keine Notwendigkeit zur Aufgabe der Neutralität bestand. Es war eine Zeit, in der Russland keine Gefahr darstellte. Aber diese Zeit, meine Damen und Herren, in der Russland keine Gefahr für die Republik Finnland werden würde, ist vorbei; das ist spätestens seit Februar dieses Jahres in Finnland politischer Konsens. Es ist ein historischer und geopolitischer, kaum zu überschätzender Kurswechsel unseres befreundeten Landes Finnland.

(Beifall bei der FDP, der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Noch weitreichender, jedenfalls chronologisch, ist die Entscheidung Schwedens, das seit 1818 für sich Neutralität angenommen hat. König Karl Johann erhob das Prinzip der Neutralität zur wichtigsten außenpolitischen Strategie. Seit dieser Zeit verstand sich das Land als neutral und wurde auch so wahrgenommen – eine Insel der Rechtschaffenen in einer heillos kriegerischen Welt. Neutralität, Demokratie, eine eigene Außen- und Sicherheitspolitik verliehen dem Land sogar während der zwei Weltkriege eine vergleichsweise ausgeprägte Stabilität.

Bis vor wenigen Wochen waren sich alle Regierungen in Schweden einig: Die Allianzfreiheit hat der Welt und dem Land gut gedient. Doch nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine, nach unzähligen russischen Verletzungen des schwedischen Luft- und Seeraumes verkündet nun auch Schweden, ein gemeinsamer schwedischer und finnischer NATO-Beitritt würde die Lage in Europa stabilisieren. Meine Damen und Herren, dieses Parlament sagt zu dieser Einschätzung heute deutlich Ja. Das ist historisch:

(Beifall bei der FDP, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Zwei gefestigte Demokratien, beide völlig unverdächtig irgendwelcher militaristischer Attitüden; beide stehen sie seit Langem bündnispolitisch ungebunden und suchen jetzt Zuflucht unter dem Sicherheitsschirm des westlichen Verteidigungsbündnisses.

Natürlich gibt es hier im Haus und draußen dann auch die Legendenbildung – wir haben es gerade gehört –, es sei ja nur ein geopolitischer Konflikt, der zum Krieg geführt habe. Nein, meine Damen und Herren, das war kein geopolitischer Konflikt, in dem alle Akteure gleich zu bewerten sind. Das Narrativ eines geopolitischen Konflikts, in dem alle gleich zu bewerten sind, das Narrativ des bedrängten Russlands soll eigentlich nur die Unterstützung derer bemänteln, die dieses Narrativ verbreiten für eine russische Außenpolitik, die expansionistisch, revisionistisch und, ja, auch gewalttätig ist.

(Beifall bei der FDP, der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir haben hier gerade gehört, dass Wladimir Putin sich auf Peter I. bezieht. Denjenigen, die sich ein wenig mit der Geschichte der russischen Monarchie auskennen, ist eines klar: Dieser Vergleich könnte falscher nicht sein. Wenn man schon einen Zaren bemühen wollte, Herr Gauland, dann wäre es Nikolaus I. Er hat die Geheimpolizei gegründet, er hat nach innen brutale Repression ausgeübt, und er hat am Ende seines Lebens den Krimkrieg verloren. Ich glaube, das ist eine bessere Analogie als zu Peter I.

(Beifall bei der FDP, der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Deswegen, meine Damen und Herren, ignorieren wir dieses Narrativ. Der NATO-Beitritt Finnlands und Schwedens baut nicht auf einer angeblichen Bedrängung Russlands auf. Er ist die Fortsetzung einer klaren und einigen Politik des Westens, die sich für eine Politik der Sicherheit und Stabilität im euroatlantischen Raum einsetzt.

Hier will ich als Vorsitzender der Deutsch-Baltischen Parlamentariergruppe eines hinzufügen: Die Sicherheit im Ostseeraum wird durch den Beitritt der beiden Länder enorm ansteigen. Die Distanz von Helsinki nach Tallinn über den Finnischen Meerbusen beträgt keine 90 Kilometer. Dieser Fortsatz des Bündnisses der drei baltischen Republiken, der so schwer zu verteidigen war, wird jetzt Teil des NATO-Gebietes und kann auf eine Art und Weise abgesichert werden, wie es vorher nicht möglich war. Das ist ein ganz konkreter Fortschritt auch für unsere Freunde im Baltikum, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der FDP, der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, die Verteidigungsministerin hat es gesagt: Die NATO ist unser gemeinsamer Schutzbund. Wir bauen auf Abschreckung und Verteidigung, Krisenprävention und Krisenbewältigung, und ja, wo immer möglich, bauen wir auf kooperative Sicherheit. Wir stellen uns gemeinsam gegen die Aggression Russlands zu dieser Zeit. Ich bin überzeugt, dass damit die Sicherheit im gesamten euroatlantischen Raum gestärkt wird, dass wir mit Finnland und Schweden zwei fähige Verbündete gewinnen, und wir werden unser Verteidigungsbündnis so nachhaltig stärken.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP, der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Nächster Redner: für die Fraktion Die Linke Dr. Gregor Gysi.

(Beifall bei der LINKEN – Dr. Marie-Agnes Strack-Zimmermann [FDP]: Na, wollen wir immer noch die NATO abschaffen, Herr Gysi? – Gegenruf der Abg. Jessica Tatti [DIE LINKE]: Oh, mein Gott! – Weiterer Gegenruf der Abg. Amira Mohamed Ali [DIE LINKE]: Wie wäre es, wenn Sie erst mal zuhören? Unglaublich! Er hat noch kein Wort gesagt!)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7538305
Wahlperiode 20
Sitzung 48
Tagesordnungspunkt Gesetzentwurf NATO-Beitritt Finnland und Schweden
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