Michael MüllerSPD - Einsetzung Enquete-Kommission: Lehren aus Afghanistan
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mein Kollege Ralf Stegner hat in seinen Reden zur Einsetzung des Untersuchungsausschusses Afghanistan immer wieder an die schrecklichen Bilder erinnert, die wir alle noch im Kopf haben: Bilder, die entstanden sind, als unser Einsatz, der Einsatz der deutschen Soldatinnen und Soldaten, der Entwicklungshelfer, so abrupt endete, als Tausende Menschen nach unserem Abzug noch verzweifelt versucht haben, sich und ihre Familien in Sicherheit zu bringen.
Meine Damen und Herren, es ist richtig, dass das in einem Untersuchungsausschuss aufgearbeitet wird. Aber es ist genauso richtig und wichtig, dass wir heute noch einen Schritt weitergehen, nämlich einen wichtigen Schritt mit der Einsetzung dieser Enquete-Kommission, die eben nicht nur das Ende unseres Engagements betrachtet, sondern den gesamten Zeitraum, die 20 Jahre unseres Engagements in Afghanistan. Es geht darum, auszuwerten, wie wir humanitär, finanziell, militärisch helfen konnten. Es geht darum, den gesamten außen-, sicherheits- und entwicklungspolitischen Einsatz unseres Landes zu betrachten und daraus Schlussfolgerungen zu ziehen.
Meine Damen und Herren, ich glaube, Herr Wadephul hat recht: Ja, es hat viele Erfolge gegeben.
(Thorsten Frei [CDU/CSU]: Ganz sicher hat er recht!)
Wir haben Milliarden eingesetzt für Entwicklungshilfe und humanitäre Hilfe. Wir haben Erfolge erzielt im Kampf gegen den Terror. Krankenhäuser und Schulen wurden gebaut. Insbesondere in den Städten hatten Frauen die Chance, Arbeitsplätze zu bekommen, an die Universitäten zu gehen. Mädchen konnten Schulen besuchen. Die Kindersterblichkeit ist zurückgegangen. Von Berufsausbildungsangeboten profitieren bis heute viele.
Stimmt alles, und trotzdem muss man klar sagen: Die Bilanz nach 20 Jahren unseres Engagements ist ernüchternd. Wir hinterlassen ein bitterarmes, zerrissenes und dysfunktionales Land. Die erneute Machtübernahme der Taliban dauerte nur wenige Tage. Afghanische Streitkräfte, über viele Jahre mit großem Einsatz aufgebaut, sind praktisch über Nacht zusammengebrochen. Es gibt keine halbwegs funktionierenden staatlichen bzw. demokratischen Strukturen im Land. Es ist uns auch nicht wirklich gelungen, auf dem Land – nicht in den Städten – für unser Engagement ausreichend Vertrauen und Loyalität innerhalb der Bevölkerung zu gewinnen. Ohnehin war die Situation außerhalb der Städte immer besonders schwierig. Die Wirtschaftskrise verstärkt das jetzt noch zusätzlich. Menschenrechtsverletzungen, Repressionen, insbesondere gegen Frauen, sind leider wieder an der Tagesordnung.
Aber, meine Damen und Herren, zur Wahrheit gehört auch: Noch vor dem Abzug hat es im Land jedes Jahr mehrere Tausend zivile Opfer durch Kampfhandlungen gegeben: alleine 2020 2 500 versehrte oder getötete Kinder. Das heißt, auch während unseres Einsatzes gehörte Afghanistan zu den fragilsten Ländern der Welt. Wir haben keine dauerhafte Befriedung erreicht.
Meine Damen und Herren, all das macht deutlich: Es ist dringend geboten, die verschiedenen Einsätze und Missionen zum Kampf gegen den Terror, zur Stabilisierung, zur Etablierung von rechtsstaatlichen Strukturen, zur verbesserten Regierungsarbeit in Afghanistan aufzuarbeiten. Wir haben ja festgehalten, dass das neben dem Untersuchungsausschuss auch in einer Enquete-Kommission stattfinden soll, dass wir nicht nur zurückblicken wollen, sondern vor allen Dingen auch Schlussfolgerungen für die Zukunft ziehen wollen. Mit wissenschaftlicher Expertise wollen und werden wir die vergangenen 20 Jahre evaluieren, Erkenntnisse praxisnah formulieren, zukunftsgerichtet aufbereiten und so, glaube ich, vor allen Dingen für zukünftige Auslandseinsätze wichtige Erkenntnisse weitergeben können.
Von besonderer Bedeutung ist vor diesem Hintergrund für mich die Analyse des vernetzten Ansatzes, also des Zusammenspiels von Militär, Diplomatie, Entwicklungshilfe, von lokalen Institutionen und den Akteuren vor Ort. Denn so muss es doch sein. Der vernetzte Ansatz darf doch nicht nur bedeuten, dass wir hier vor Ort ressortübergreifend zusammenarbeiten und uns über unsere Einsätze auseinandersetzen – schon das ist oft schwierig genug –, nein, vernetzter Ansatz muss bedeuten, die Menschen vor Ort mit einzubeziehen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Vor jedem Einsatz muss es zwingend von Expertinnen und Experten erstellte Analysen zu den Verhältnissen vor Ort geben. Was ist überhaupt ein realistisches Ziel? Gibt es Strukturen, die man nutzen kann? Können wir mit unseren Mitteln eine Gesellschaft nach unseren Maßstäben verändern? Haben wir uns vor unserem Engagement wirklich intensiv mit Geschichte und Kultur, mit der Situation vor Ort auseinandergesetzt?
Meine Damen und Herren, aus begangenen Fehlern, falsch gesetzten Prioritäten, aus unrealistisch gesetzten Zielen müssen wir lernen. Die Liste der Länder, in denen wir jetzt schon aktiv sind, ist lang: Mali, Sudan, Irak mögen noch so unterschiedlich sein. Und doch, glaube ich, ist es zwingend notwendig, dass wir aus gemachten Fehlern lernen, um uns dort besser engagieren zu können. Das gilt erst recht für unsere Engagements in der Zukunft. Nur so kann Deutschland seinen Beitrag zu nachhaltigen Friedensbemühungen und internationaler Sicherheit leisten. Es reicht nicht, allein edle Ambitionen zu haben; vielmehr müssen wir realistische und umsetzbare Ziele definieren.
In der Enquete-Kommission haben wir, glaube ich, die Chance dazu, das transparent, sachlich und kompetent unter Einbindung vieler Expertinnen und Experten, Wissenschaftler, beteiligter Institutionen vor Ort zu erarbeiten. Daraus wollen und werden wir unsere Schlussfolgerungen ziehen. Nach 20-jährigem Engagement sind wir das auch den Tausenden Opfern, den vielen Ortskräften, von denen viele Tausende noch auf die Evakuierung warten, den getöteten Entwicklungshelfern und den getöteten Soldatinnen und Soldaten schuldig. Ja, Fehler, die gemacht wurden, dürfen sich nicht wiederholen.
Meine Damen und Herren, abschließend will ich mich bedanken bei den Koalitionsfraktionen, die sich konstruktiv in die Erarbeitung unseres Einsetzungsbeschlusses eingebracht haben, aber auch bei der CDU/CSU, die genauso konstruktiv mitgewirkt hat. Ich glaube, es ist eine gute Grundlage, wenn zu spüren ist, dass Regierung und Opposition sich gemeinsam etwas vorgenommen haben, um diesen wichtigen Auftrag zu erfüllen. Dafür ein großes Dankeschön.
Ich freue mich auf die Zusammenarbeit.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)
Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Stefan Keuter.
(Beifall bei der AfD)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7538407 |
Wahlperiode | 20 |
Sitzung | 48 |
Tagesordnungspunkt | Einsetzung Enquete-Kommission: Lehren aus Afghanistan |