07.09.2022 | Deutscher Bundestag / 20. WP / Sitzung 50 / Einzelplan 05

Jörg NürnbergerSPD - Auswärtiges Amt

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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Zum Abschluss der Debatte über diesen Einzelplan möchte ich noch einmal den Fokus auf Europa legen.

Als junger Student habe ich in meiner oberfränkischen Heimat die erste Zeitenwende in meinem Leben erlebt. Am Morgen des 10. November 1989 waberten die Schwaden von Trabiabgasen durch Bayreuth. Tausende von Gästen aus Sachsen und Thüringen unternahmen eine erste Erkundungsfahrt nach Bayern. Die Euphorie und die Erwartungen an die Zukunft waren riesig groß. In der Folge gelang es in weniger als einem Jahr, die deutsche Einheit wiederherzustellen, in den Staaten Mittel- und Osteuropas demokratische Reformen durchzuführen und viele dieser Länder in die Europäische Union aufzunehmen, weil die EU neben der NATO als Garant für Sicherheit, ganz besonders als Garant für Wohlstand, gesehen wurde.

Auch für mich persönlich war diese Zeitenwende ein großer Gewinn. Ich konnte mich als deutscher Anwalt auch in Tschechien und Österreich niederlassen. Wir konnten im Jahr 2004, im Jahr des EU-Beitritts Tschechiens, heiraten, eine binationale Familie gründen. Wir können problemlos in zwei Staaten leben. Und wenn unsere Kinder heute bei der tschechischen Volkszählung zu ihrer Nationalität befragt werden, geben sie ganz selbstverständlich an: tschechisch, deutsch und europäisch.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Die zweite Zeitenwende in meinem Leben durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine bedroht jetzt all das, was in den letzten 30 Jahren seit dem Fall des Eisernen Vorhangs in Europa erreicht wurde: Wohlstand, Demokratie, Pluralität und das gemeinsame System der Sicherheit. Am Ende bedroht es den Zusammenhalt in Europa.

Man kommt gar nicht umhin, es immer wieder zu sagen: Wir befinden uns in extrem schwierigen Zeiten. Bundeskanzler Olaf Scholz hat in seiner Rede an der Karls-Universität in Prag am Montag vor einer Woche zu Recht darauf hingewiesen, dass Europa ein nach innen gerichtetes Friedensprojekt ist. Gerade der schreckliche Ukrainekrieg führt uns vor Augen, wie wichtig unser gemeinsames Friedensprojekt tatsächlich ist.

Zu den wichtigsten Schlussfolgerungen, die aus dieser zweiten Zeitenwende folgen, gehören die für uns alle existenziell wichtigen gemeinsamen Anstrengungen auf dem Gebiet der Sicherheits- und Verteidigungspolitik in Europa, die wir weiter verstärken und ausbauen wollen. Hierzu gehört selbstverständlich nicht allein der Einzelplan 05 mit seinen knapp 6,4 Milliarden Euro, sondern weit mehr. Europa ist eine Querschnittsaufgabe, die sich in vielen Einzelplänen des Haushaltes wiederfindet.

Im Bereich der Sicherheits- und Verteidigungspolitik ermöglicht uns vor allem das Sondervermögen für die Bundeswehr, unseren deutschen und damit den europäischen Anteil innerhalb der NATO zu stärken und unseren Beitrag zu den Verteidigungsanstrengungen der EU zu leisten. Entscheidend für uns ist – heute mehr denn je – eine engere Kooperation, um diese gemeinsamen Verteidigungsanstrengungen zu optimieren. Dazu gehört auch eine intensive Zusammenarbeit der europäischen Rüstungsindustrien und gemeinsame Beschaffungen von Rüstungsgütern.

EU und NATO werden sich hierbei ergänzen und keine Doppelstrukturen schaffen. Wir benötigen ein eigenständiges Gremium auf Ebene der EU, einen Rat der EU-Verteidigungsministerinnen und ‑minister. Wir brauchen ebenfalls eine schnelle EU-Eingreiftruppe bis 2025, die, wie von uns angeboten, auch von Deutschland geführt werden kann.

Aber all das muss parallel durch einen Prozess innerer Reformen der EU begleitet werden. Nur so kann künftig die optimale Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit der Europäischen Union sichergestellt werden. Olaf Scholz hat gesagt: „Form follows function.“ Auch dieser Grundsatz, der aus der Architektur stammt, hat hier seine Berechtigung. Soweit es notwendig ist, werden wir mit unseren Partnern auch über die Änderung der europäischen Verträge reden. Angesichts der anstehenden Erweiterungen ist das besonders dringlich. Die angestrebte Wahlrechtsreform der EU gehört dazu, wobei zunächst die Ratifizierung der schon 2018 beschlossenen Änderungen sinnvoll ist. Wir sehen das als Grundlage für eine künftige Umsetzung weitergehender Änderungen auf der Basis des Beschlusses des Europäischen Parlaments vom Mai dieses Jahres.

Vor allem wird es in einer erweiterten EU noch stärker darauf ankommen, dass wir strukturell und von unseren Regeln her entscheidungs- und politikfähig sind. Wir setzen uns für mehr Mehrheitsentscheidungen ein, und wir setzen uns dafür ein, dass die Rechtsstaatlichkeit in allen europäischen Ländern eine der wesentlichen Eigenschaften ist, die von allen einzuhalten sein wird.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Dringend notwendig für die Funktionsfähigkeit von Europa insgesamt ist aus unserer Sicht auch eine Beschleunigung des Beitrittsprozesses für die Staaten des Westbalkans. Wir dürfen diese Staaten und ihre Menschen nicht enttäuschen. Sie haben große Erwartungen, ähnlich wie die Erwartungen der Menschen 1989/1990 in Ostmitteleuropa. Gemeinsam sind wir stärker. Darum haben wir der Ukraine und Moldau aus guten Gründen den EU-Kandidatenstatus zuerkannt.

Für uns bleibt klar: Wir müssen und wir werden Europa stark machen. Wir brauchen eine Stärkung in allen Bereichen, von der Energie- und der Wirtschaftspolitik bis zur Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Nur mit den von mir beschriebenen Maßnahmen wird es uns gelingen, die EU weiterhin als Garant von Sicherheit und Wohlstand zu etablieren. Nur eine solche EU ist und bleibt auch künftig attraktiv für die beitrittswilligen Staaten und deren Menschen, und zwar als freiheitlicher und demokratischer Gegenentwurf zu den autoritär geführten Staaten wie Belarus, Russland oder China.

Mit einer gestärkten und erweiterten EU können wir den Autokraten die Stirn bieten und geben damit letztlich nicht nur meinen Kindern, sondern auch allen anderen Kindern in Europa die Chance, die europäischen Errungenschaften weiterhin genauso zu nutzen, wie es mir und meiner Generation nach 1989 bis heute möglich war. Wir als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten – ich denke, ich darf das auch für die Ampelkoalition sagen und hoffentlich auch für die anderen demokratischen Fraktionen in diesem Haus – möchten diesen gemeinsamen europäischen Weg auch weiterhin mit vollem Engagement gehen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7538715
Wahlperiode 20
Sitzung 50
Tagesordnungspunkt Auswärtiges Amt
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