08.09.2022 | Deutscher Bundestag / 20. WP / Sitzung 51 / Einzelplan 15

Karl Lauterbach - Gesundheit

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Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Wir sind in der Haushaltsdebatte für das Bundesgesundheitsministerium. Ich möchte beginnen, indem ich mich zunächst einmal bei allen Haushälterinnen und Haushältern für die guten Beratungen ganz herzlich bedanke. Wir haben hier einen großen Haushalt zu verabschieden. Der Haushalt schrumpft allerdings von derzeit 64 Milliarden Euro auf 22 Milliarden Euro im nächsten Jahr, also auf ungefähr ein Drittel. Das ist damit zu erklären, dass wir davon ausgehen, dass uns die Pandemie im nächsten Jahr nicht mehr vor teure und unlösbare Probleme stellen wird.

Ich rechne damit, dass wir in diesem Herbst noch einmal Schwierigkeiten bekommen. Auf diese sind wir aber sehr gut vorbereitet; diese Vorbereitung werde ich später in der Diskussion um das Infektionsschutzgesetz vortragen. Ich konzentriere mich jetzt auf die Frage, wie wir das Gesundheitssystem modernisieren werden. Aber ich möchte darauf hinweisen, dass ich davon ausgehe, dass wir die Pandemielage im Herbst gut im Griff haben werden, und das werde ich später ausführen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

Jetzt geht es um die Zukunft unseres Gesundheitssystems. Da sind im Hintergrund zahlreiche Projekte der Modernisierung weitergeführt worden. Ich werde mich in meiner Rede auf mehrere Bereiche konzentrieren. Zunächst einmal werde ich darauf eingehen, was wir in der Pflege verändern werden. Dann werde ich auf Krankenhausreformen zu sprechen kommen, dann auf den Bereich der Digitalisierung und dann schließlich auf das, was wir für sozial benachteiligte Menschen tun wollen, um das Gesundheitssystem gerechter zu machen.

Ich fange einmal mit der Pflege an. In der Pflege haben wir tatsächlich wichtige Reformen vor uns, und eine ganz konkrete Reform, das sogenannte Krankenhauspflegeentlastungsgesetz, beschäftigt sich mit dem Problem: Was machen wir eigentlich gegen die chronische Überlastung der Pflege in vielen Stationen, in vielen Bereichen?

(Tino Sorge [CDU/CSU]: Wann kommt der Entwurf?)

Was wir dort machen, ist zunächst einmal: Wir gleichen ab durch ein Instrument, mit dem man den Pflegebedarf vergleichen kann mit der Pflege, die angeboten wird: Welche Stationen sind eigentlich besonders überlastet? Und wenn wir diese Überlastung feststellen, dann kommt eine entsprechende Entlastung: entweder durch mehr Urlaubstage, durch Entlastungstarife oder durch Zuschläge, die steuerfrei und abgabenfrei organisiert werden können. Das führt dazu, dass die Pflege als Arbeitsplatz wieder interessanter wird.

Man kann ja zunächst mal die Frage stellen: Was bringt es denn überhaupt, wenn ich nur auf der Station die Überlastung der Pflege dokumentiere? Wenn, wie mit diesem Gesetz vorgesehen, tatsächlich eine Entlastung kommt, dann wird die Pflege als Arbeitsplatz wieder interessanter, und wir wissen, dass ungefähr 300 000 Pflegerinnen und Pfleger im Prinzip bereit sind, wieder in die Pflege zurückzukehren. Dieses Gesetz wird dazu einen wesentlichen Beitrag leisten. Das ist der Grund, weshalb das Gesetz von den Gewerkschaften nicht nur unterstützt, sondern auch gefordert wird. Dafür bedanke ich mich. Wir werden mit diesem Gesetz die Pflege wieder deutlich attraktiver machen und dem Pflegenotstand entgegenwirken.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Im Krankenhaus muss mehr geschehen. Ich fange mit einem Bereich an, der mir besonders am Herzen liegt, und zwar den Kinderkrankenhäusern. Wir haben ungefähr 350 Abteilungen und Kliniken für Kinder. Diese Kliniken haben in den letzten Jahren deutlich gelitten. Auch dort gibt es einen Reformstau. Wir haben da etwas vorbereitet, und zwar eine weitgehende Reform, womit die Kinderkliniken komplett aus dem Bereich der Fallpauschalen entfernt werden.

Damit wird der ökonomische Druck auf diese Kliniken von jetzt auf sofort beendet. Die Kliniken können dann wieder die Kosten abrechnen, bekommen ein Budget und müssen sich nicht durch Leistungssteigerungen quasi das Budget von Jahr zu Jahr neu erkämpfen. Das heißt, hier haben wir dann einen Bereich, der komplett ohne die Pauschalen und im Wesentlichen nach dem System der Kostendeckung funktioniert. Gerade bei den Kindern ist das unbedingt notwendig. Es kann nicht länger akzeptiert werden, was wir viel zu lange akzeptiert haben, dass in der Kinderkrankenhausversorgung ökonomische Aspekte Einfluss auf die Therapieentscheidungen haben. Das können wir nicht hinnehmen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Dafür werden wir zusammen mit den Ländern ein Gesetz vorbereiten. Wir werden auch mehr Geld in die Hand nehmen. Die Kinderheilkunde wird in den Kliniken deutlich entlastet.

(Ates Gürpinar [DIE LINKE]: Gut, dass Sie es verstanden haben!)

Wir gehen aber im Krankenhausbereich weiter. Wir werden auch die Fallpauschalen allgemein entlasten, und zwar dahin gehend: Die Fallpauschalen haben derzeit keine Vorhaltekosten, die pauschal abdecken, wie stark ein Krankenhaus eigentlich gebraucht wird. Die Fallpauschale ergibt den gleichen Preis in einer Region, wo es sehr viele Krankenhäuser gibt und wo wir eine Überversorgung haben, und in Regionen, wo es eine Unterversorgung gibt. Wir wollen jetzt durch eine Vorhaltepauschale dort mehr Geld hinsteuern, wo die Krankenhäuser unbedingt benötigt werden. Dafür soll es dort relative Abschläge geben, wo es eine Überversorgung gibt. Damit steuern wir die Krankenhausversorgung sehr viel besser. Wir geben Anreize, dass tatsächlich die demografische und die medizinische Situation dafür verantwortlich ist, wo investiert wird. Auch das ist eine sehr wichtige Entökonomisierung unserer Krankenhausversorgung, und sie ist längst überfällig. Sie kommt jetzt, sie wird vorbereitet. Wir sind mit den Sachverständigen schon in einer konkreten Umsetzungsplanung.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP – Tino Sorge [CDU/CSU]: Wann kommt denn endlich der Entwurf?)

Nicht vergessen werden darf, dass wir auch die kurzfristigen Bedürfnisse der Krankenhäuser berücksichtigen. Wir werden die Energiekosten, die Inflationskosten und die zurückgegangenen Fallzahlen analysieren. Wir werden ein Hilfspaket schnüren, damit die Krankenhäuser nicht in einer Situation, wo 40 Prozent der Krankenhäuser Liquiditätsprobleme haben, in unüberbrückbare Schwierigkeiten kommen. Auch da arbeiten wir an einer kurzfristigen Lösung.

Wir lassen in dieser Energie- und Inflationskrise unsere Krankenhäuser nicht im Stich und werden sie über den Herbst und über den Winter bringen. Das haben wir vor; dafür werden wir in den nächsten Wochen konkrete Vorschläge vorlegen und mit den Ländern beschließen.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP – Tino Sorge [CDU/CSU]: Herr Minister, den Antrag gibt es schon! Sie müssen dem nur zustimmen!)

Ich komme zum Bereich der Digitalisierung. Die Digitalisierung des Gesundheitswesens ist der Bereich, über den am meisten gesprochen wird und wo am wenigsten passiert. Wir sind, was die Digitalisierung angeht, im europäischen Vergleich nach wie vor ein Entwicklungsland. Wir können nicht mithalten mit Ländern wie Dänemark oder den Niederlanden, geschweige denn mit Ländern außerhalb von Europa, zum Beispiel Israel, wo einfach viel mehr möglich ist.

Was wir jetzt machen: Wir bauen auf. Die schreckliche Pandemie hat nur Nachteile gebracht, aber in einem Bereich hat sie tatsächlich etwas angestoßen: in der Digitalisierung. Bei der Digitalisierung ist es zu viel mehr Telesprechstunden und Telekonsultationen gekommen. Das elektronische Rezept ist möglich geworden. Wir haben die Pflegeberatung digitalisiert. Wir haben mit der Corona-Warn-App die Versicherten an die Digitalisierung herangeführt. Wir wollen darauf aufbauen. Wir sind da jetzt sozusagen in eine Kurve eingebogen.

Wir wollen aus der Kurve heraus beschleunigen, und wir wollen einiges einführen: Wir wollen das elektronische Rezept einführen – letzte Woche erfolgt. Wir wollen die elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung einführen – schon 23‑Millionen-mal genutzt bis zum August. Wir wollen die elektronische Patientenakte als Opt-out-Lösung einführen. Damit ist sozusagen jeder zunächst einmal mit einer elektronischen Patientenakte unterwegs. Wir wollen diese dann aber auch für Forschungszwecke nutzen, indem wir das System des digitalen Zwillings – in Israel wird das schon praktiziert – nutzen, um aus Routinedaten heraus Forschung machen zu können, sodass wir aus den Routinedaten heraus sehen können, welche Behandlungskonzepte effizienter sind und besser funktionieren. Das ist ein wesentlicher Schritt nach vorne.

Wir sind mit den Israelis diesbezüglich im engen Kontakt. Am Samstag reisen wir mit einer Delegation von Experten nach Israel und werden einen Kooperationsvertrag unterschreiben. Wir orientieren uns hier an den Besten, und Israel ist, was die Digitalisierung des Gesundheitssystems angeht, weltweit führend. Das wollen wir aufgreifen.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir wollen mit den Besten zusammenarbeiten und greifen das auf. Wir wollen aus der Kurve heraus beschleunigen. Die Digitalisierung wird ein wesentlicher Schwerpunkt der Arbeit unseres Hauses werden.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Lassen Sie mich zum Schluss noch einmal sagen: Wir müssen auch etwas für die Ärmsten tun. Wir dürfen sie nicht zurücklassen. Wir wollen 1 000 Gesundheitskioske errichten.

(Zuruf von der CDU/CSU: Aha!)

Das sind neue Strukturen, wo man einen Termin bekommt, beispielsweise für einen Facharztbesuch oder einen Krankenhausbesuch, wo Vorbeugeleistungen abgerufen werden können, wo soziale Dienste abgerufen werden können, wo Hebammendienste vermittelt werden können, wo man Übersetzungen bekommen kann, wo Pflegeberatung und Ernährungsberatung stattfindet.

(Ates Gürpinar [DIE LINKE]: Ohne Geld! Alles ohne Geld!)

Mit 1 000 Kiosken in einigen der ärmsten Stadtteile und Regionen Deutschlands bauen wir eine neue Struktur auf, die es längst hätte geben müssen, damit es in den ärmeren Stadtteilen eine niederschwellige, schnelle, gute Zugangsmöglichkeit gibt für die Menschen, auch für diejenigen, die die Sprache nicht gut sprechen; auch für die Menschen, die zum Beispiel noch gar keine Versicherung haben; für diejenigen, die keinen richtigen Zugang haben. Wir müssen das machen. Das spart auch Geld, das spart Notfalleinweisungen, das spart Krankenhauseinweisungen, das führt zu einer besseren Medizin. Wir helfen hier den Ärmsten; das ist uns sehr wichtig. Das haben wir zu einer Priorität gemacht.

Wir haben viel vor. Wir machen viel, auch schon im Hintergrund. Wir machen nicht nur Pandemie, sondern wir machen viel für die Modernisierung des Gesundheitssystems.

(Lachen bei der AfD)

– Ja, das ist klar, dass Sie davon weder etwas verstehen noch mitbekommen. -Aber es ist so.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Ich danke denjenigen, die diesen Weg begleitet haben. Ich danke Ihnen auch für den großzügigen Haushalt. Den werden wir benötigen, und den werden wir effizient einsetzen.

Danke schön.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Zwischenfragen – nur dass das deutlich wird – lasse ich immer nur zu, wenn sie innerhalb der Redezeit gestellt werden. Das können Sie nicht wissen, aber deswegen war das Zeichen so. Aber Sie können sich ja sicherlich anders auseinandersetzen.

Ich habe Ihnen eine Mitteilung zu machen: Die Fraktion der AfD hat beantragt, die Wahl des Stellvertreters der Präsidentin und die Wahl eines Mitglieds des Parlamentarischen Kontrollgremiums – das sind die Tagesordnungspunkte 3 und 4 – von der heutigen Tagesordnung abzusetzen. Ich gehe davon aus, dass Sie damit einverstanden sind. – Damit entfallen diese Tagesordnungspunkte.

Das Wort geht an Sepp Müller für die CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7538793
Wahlperiode 20
Sitzung 51
Tagesordnungspunkt Gesundheit
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