Reiner Haseloff - Aktuelle Stunde - Gewährleistung der Energieversorgung
Frau Präsidentin! Herr Bundesminister! Sehr geehrte Abgeordnete! Seit gestern stehen wir in einer neuen Phase des Krieges in der Ukraine. Und wir wissen, was die Konsequenz ist: Nicht nur die militärischen Aktionen werden noch schärfer erfolgen, als wir es bisher erlebt haben, sondern auch die Auswirkungen auf die ganze Welt, aber auch auf Deutschland und die Europäische Union werden noch stärker zu verspüren sein.
Wir wissen, dass wir in einer ganz kritischen Phase sind. Die Zeit läuft uns weg. Die Situation in den Unternehmen ist prekär. Es kommt in einigen Branchen, wenn wir nicht aktiv gemeinsam handeln, zu einer Kollabierung bestimmter Strukturen. Wertschöpfungsketten sind nicht nur unterbrochen, sondern kippen regelrecht weg. Ich denke da nur an die chemische Industrie, in diesem Zusammenhang an die Grundstoffindustrie und an all das, was im Netzwerk unserer Volkswirtschaft daraus resultiert. Wenn wir nicht parallel zu den langfristigen Maßnahmen, lieber Herr Habeck,
(Patrick Schnieder [CDU/CSU]: Der ist schon wieder weg!)
die Sie gerade hier vorgeschlagen haben, Sofortmaßnahmen realisieren, dann werden wir in den nächsten Wochen und Monaten eine Insolvenzwelle bekommen, die wir nicht wieder einfangen können.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Zuruf des Abg. Reinhard Houben [FDP])
Das heißt, wir müssen sehen, dass wir in der Lage sind, auch von der Zeitachse her, Instrumente, die wir schon während der Coronakrise genutzt haben, auch jetzt punktgenau einzusetzen, wenn es darum geht, Kurzarbeiterregelungen mit Aufstockungsmöglichkeiten zu haben, aber letztendlich auch die Verwaltung zu stärken. Denn all das, was wir jetzt auch mit den Entlastungspaketen usw. machen, muss ja exekutiert und administriert werden. Deswegen ist es immer auch wichtig, bei all den Projekten, die die Koalition hier in Berlin realisieren will, zu schauen: Was ist eine günstige Zeitachse? Wann ist was wirklich dran? Und was können wir auf der kommunalen Ebene und auf der Länderebene bewältigen, da, wo das eigentliche, reale Leben ja stattfindet, und womit muss es entsprechend flankiert werden? Es wäre meine dringende Bitte an dieser Stelle, dass Sie noch einmal genau schauen: Was hat jetzt oberste Priorität, und was kann noch eine Zeit lang warten?
Das Zweite, das für mich bezüglich der Wirtschaft ganz relevant ist: Wir werden versuchen, mit Entlastungspaketen akute Prozesse, soziale Notlagen einzufangen, wie zum Beispiel bei Unternehmen aus dem Bäckereihandwerk, die jetzt schnell Hilfe brauchen, damit sie überhaupt weiter existieren können. Wir brauchen darüber hinaus einen strukturpolitischen Ansatz, ein ganzheitliches Konzept, wie wir die Energiemärkte, das heißt Strom und Gas im Besonderen, entsprechend positiv beeinflussen können, und zwar dauerhaft und nachhaltig, sodass die Unternehmen wieder Planungssicherheit bekommen. Diese sind derzeit faktisch regelrecht zur Untätigkeit verurteilt, wenn es darum geht, entsprechende Angebote abzugeben. Das heißt, wir brauchen ein klares Signal, zum einen zum Beispiel im Sinne von ausreichenden Mengen Strom am Markt – das ist richtig, wie Sie es gesagt haben – und zum anderen, dass wir als Staat ordnungspolitisch nicht handlungsunfähig sind, sondern dass wir, wenn wir diese Sanktionen entsprechend durchziehen wollen, die parallele Flankierung hinbekommen.
Das fängt an bei den Maßnahmen im Zusammenhang mit dem Strommarktdesign, das wir vor zehn Jahren mit der Europäischen Union hinbekommen haben. Bis dahin haben die Wirtschaftsminister – ich war einer – die Strom- und Gaspreise selber genehmigt. Das alles haben wir einem Markt und einem Algorithmus überlassen,
(Zuruf der Abg. Dr. Petra Sitte [DIE LINKE])
die in guten Fahrwassern funktionieren, aber derzeit eben nicht. Es ist die Frage, ob der Staat, wenn er auf der einen Seite politisch aktiv in die Wirtschaftsprozesse eingreift, auf der anderen Seite in der Lage ist, diese Prozesse durch ordnungspolitisches Nachführen der Regularien, die er für sich selber entwickelt hat, zu steuern. Das ist sicherlich einfacher gesagt als getan. Aber es braucht ein Signal, dass die Unternehmen, die derzeit mit roten Zahlen produzieren, um bestimmte Bereiche der Volkswirtschaft aufrechtzuerhalten – ich denke nur an das Stickstoffwerk Piesteritz, um AdBlue zu produzieren, oder an Leuna, um Kunststoffe zu produzieren, damit für die Energiewende auch die Technik zur Verfügung steht –, wissen, dass sie Hilfen erfahren und dass sich langfristig an der Preisentwicklung etwas abspielt, was auch positiv zum Erhalt des Standorts beiträgt.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Der Standort Deutschland ist in bestimmten Branchen in höchstem Maße gefährdet. Wer sich mit großen Unternehmen aus Amerika oder aus der Europäischen Union unterhält, die ihre Standorte bei uns, auch in Sachsen-Anhalt, haben, der weiß, dass es überall inzwischen einen Plan B gibt für den Fall, dass die Hilfen nicht greifen bzw. ausreichen, um weiterhin am Markt zu sein. Wenn die Märkte sich nicht beruhigen, sind sie schlicht und einfach gezwungen, mit den globalen Unternehmen den Standort Deutschland zu verlassen. Das kann nicht das Ergebnis dieser politischen Aktivitäten sein, die wir jetzt unternehmen müssen, um solidarisch mit der Ukraine zu sein.
Also, meine Bitte: Machen Sie in der Bundesregierung alles dafür fit, dass Sie schnell zu Entscheidungen kommen, dass Sie nicht lange diskutieren, wenn es darum geht, wie wir das hinbekommen, und sorgen Sie dafür, dass die Signale entsprechend beruhigend in den Markt hineinwirken.
Ich möchte zur Finanzpolitik noch Folgendes sagen: Wenn wir nächste Woche in der Ministerpräsidentenkonferenz mit dem Kanzler ein drittes Entlastungspaket schnüren wollen, dann muss klar sein: Das ist im Rahmen der jetzigen Haushalte – das wird dem Bund nicht anders gehen – nicht zu bewältigen. Wir brauchen die klare Feststellung der Notlage, die uns in die Lage versetzt, angesichts der Schuldenbremse entsprechend finanztechnisch aktiv zu sein.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Wenn diese Notlage nicht erklärt wird, haben wir keine Chance, die Haushalte entsprechend so anzupassen, dass das, was wir dort vereinbaren, auch umsetzbar ist.
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat die CDU/CSU hoffentlich gehört! – Christian Dürr [FDP]: Ist das jetzt die offizielle Meinung der Union?)
Ich bin der Letzte, der sozusagen einer Finanzpolitik das Wort redet, dass es überhaupt nicht darauf ankommt, was für Schuldenberge wir in Deutschland weiterhin anhäufen, aber eins ist auch klar: Wenn jetzt nicht schnell reagiert wird, wenn jetzt nicht schnell noch einmal geschaut wird, welche Prioritäten wir rausnehmen müssen aus dem normalen Marktgeschehen, damit wir systemrelevante Unternehmen stützen können, dann verlieren wir wesentliche Bereiche unserer Volkswirtschaft – ich sagte es bereits –, und zwar so, dass wir uns wieder abhängig machen von autokratischen Systemen, die wir gerade versuchen zurückzudrängen. Wir haben aus der Coronakrise gelernt, dass wir bestimmte Zugriffe in unserer eigenen Volkswirtschaft brauchen, zumindest aber in der Europäischen Union. Wenn ich mir bestimmte Produktionszweige ansehe, dann sehe ich, dass für sie in der Europäischen Union momentan kein Platz ist, weil sie schlicht und einfach nicht wettbewerbsfähig sind, auch mittel- und langfristig nicht.
Deswegen ist Strompreisdesign und die ordnungspolitische Herangehensweise auch ein Thema, was jetzt in Brüssel dringend besprochen werden muss, auch im Sinne dessen, was zur Erhaltung der wesentlichen volkswirtschaftlichen Strukturen dringend bei uns passieren muss, damit wir die Pakete, die dazu beitragen, entsprechend finanzpolitisch verantwortlich und verantwortbar schnüren, damit in den nächsten Wochen oder zwei, drei Monaten Hilfe zu den Bürgerinnen und Bürgern kommt.
Aber eins wissen wir auch: Wenn wir jetzt nicht den Fuß in die Tür kriegen und einen nachhaltigen Umsteuerungsprozess in der Preisbildung hinbekommen, dann werden wir noch die Entlastungspakete IV, V, VI, VII brauchen. Die Finanzminister aller 16 Bundesländer haben das gestern 16 : 0 festgestellt. Das wird alles verrauchen. Das ist ein Strohfeuer. Das heißt, wir brauchen ein ganzheitliches Paket, und das muss die Bundesregierung liefern. Wir stehen Gewehr bei Fuß, auch seitens des Bundesrates, das sehr unkonventionell und schnell durchzuziehen, wie wir es in den letzten Monaten gezeigt haben. Bei bestimmten fachlichen Besonderheiten sollten wir uns aber wenigstens einen Ausschussdurchlauf gönnen, damit wir Fehler vermeiden; denn diese Fehler sind dann irreversibel und lassen sich nicht wiedergutmachen.
In dem Sinne wünsche ich noch eine gute Beratung. Dem Bundestag alles Gute. Sie können sich auf die Länder weiterhin verlassen. Aber wir müssen uns auch auf Sie verlassen können. Und wenn das weiterhin funktioniert, werden wir auch diese Krise bewältigen.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7545982 |
Wahlperiode | 20 |
Sitzung | 54 |
Tagesordnungspunkt | Aktuelle Stunde - Gewährleistung der Energieversorgung |