Bärbel Bas - Finanzielle Stabilisierung der gesetzlichen Krankenversicherung
Frau Präsidentin! Hohes Haus! Lieber Kollege Lauterbach! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Erst einmal will ich feststellen, dass es gut ist, dass wir uns heute über die essenziellen Themen im Bereich „Gesundheit und Pflege“ unterhalten und nicht über Corona. Das ist auch noch ein wichtiges Thema, aber jetzt geht es mal an die Substanz.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Themen, die die Menschen bewegen, sind: Wie finanzieren wir das System? Wir müssten über die Pflegeversicherung sprechen – das ist auch ein Desaster –, über Krankenhausfinanzierung – da sind wir auch noch nicht weiter – oder über sektorenübergreifende Versorgung; dazu haben wir auch noch nichts gehört. Das alles sind Themen, die wichtig sind. Stattdessen legen Sie heute ein Gesetz mit dem Titel „Finanzstabilisierungsgesetz“ vor. Wissen Sie, was es ist? Es ist ein Versorgungsdestabilisierungsgesetz. Eigentlich hätte es der Finanzminister einbringen müssen und nicht Sie, Herr Kollege Lauterbach.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Die Wahrheit ist doch, dass Gesundheitspolitik inzwischen entweder vom Justizminister oder vom Finanzminister gemacht wird. Das ist keine Polemik, sondern es ist meine Erfahrung auch aus den Diskussionen in der Gesundheitsministerkonferenz, in denen zum Schluss immer der Satz kommt: Ich muss mal schauen, was der Herr Lindner dazu sagt. – Es ist eine Kapitulation, wenn Gesundheitspolitik nicht mehr von den Gesundheitspolitikern gemacht wird.
(Beifall bei der CDU/CSU und der LINKEN – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie ist es denn in den Ländern?)
Natürlich ist uns klar, dass die GKV die Basis des Gesundheitssystems ist. Wir sind, wie wir alle wissen, im Moment in schwierigen Zeiten – ich nenne nur Inflation und Energiekosten. Wenn die Beiträge steigen, dann ist das kein gutes Signal für die Menschen in unserem Land vor diesem schweren Winter, der uns bevorsteht.
(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mit welcher Chuzpe behaupten Sie das hier eigentlich?)
Sie steuern auf einen Kassencrash zu, auf einen Blackout bei der Versorgung, wenn Sie so weitermachen. Da nützt es nichts, wenn Sie ankündigen: Wir werden etwas vorlegen. – Jetzt müssen Sie vorlegen! Jetzt müssen Sie es machen!
(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf der Abg. Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
In Ihrem Koalitionsvertrag steht ja auch, dass die GKV-Beiträge für Bezieherinnen und Bezieher von Arbeitslosengeld II erhöht werden und auskömmlich sein sollen.
(Zurufe der Abg. Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] und Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Wir reden da von 10 Milliarden Euro. Also, es muss hier etwas passieren. Es darf nicht bei der Ankündigung bleiben, dass man das irgendwann tut und irgendwann macht. Die 2 Milliarden Euro Bundeszuschuss sind da einfach viel zu wenig. Auch die Dynamisierung des Zuschusses ist notwendig und richtig.
(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der richtige Adressat ist da drüben!)
Sie sehen doch: Die Krankenkassen werden abgeschöpft. Das ist kontraproduktiv.
(Zuruf des Abg. Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
– Erst hören, dann stören. Das ist ein wichtiger Satz. Der gilt überall,
(Beifall bei der CDU/CSU)
im bayerischen Landesparlament, aber auch im Deutschen Bundestag, dem ich selber von 1998 bis 2002 angehörte. – Also, wir wissen, dass das Abschöpfen der Krankenkassenreserven der falsche Weg ist, meine Damen und Herren. Wenn ich heute lese, dass sogar Ihr Projekt der Einrichtung von Gesundheitskiosken von den Kassen nicht mehr finanziert wird, weil diese sehen, dass die Politik, die Sie machen, der falsche Weg ist, dann sollte Ihnen das schon zu denken geben, lieber Herr Kollege.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Die Steigerungen werden, wie wir wissen, weitergehen. Die Aufnahme der ukrainischen Flüchtlinge war richtig und wichtig, aber durch ihre Überführung in das Leistungssystem wird noch einmal ein Defizit von 1 Milliarde Euro entstehen. Das kommt noch auf das Ganze obendrauf.
Wir stehen vor ganz schwierigen Zeiten. Natürlich wollen wir zusammenhalten, Herr Kollege Lauterbach, das ist unbestritten. Länder und Bund gemeinsam – das machen wir in der GMK, glaube ich, auch immer deutlich.
(Zuruf der Abg. Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Aber Sie setzen nun einmal die falschen Schwerpunkte. Die Abschaffung des Budgets für die Neupatientenregelung – wissen Sie, was das ist? Das ist eine Leistungskürzung, Herr Kollege Lauterbach. Das können Sie schönreden, wie Sie wollen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der AfD – Tino Sorge [CDU/CSU]: Patientenfeindlich! – Zuruf der Abg. Dr. Kirsten Kappert-Gonther [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Wenn man sich die Wartezeiten auf eine Versorgung mit einer Psychotherapie ansieht, dann stellt man fest: Das ist eigentlich eine Leistungskürzung. Reden Sie doch nicht drumherum. Das nützt doch nichts. Machen Sie sich ehrlich in diesen Fragen!
(Dr. Kirsten Kappert-Gonther [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sachlich falsch!)
Oder Thema „Parodontitistherapie bei den Zahnärzten“. Es ist irre, was da abläuft. Dabei geht es um Grundversorgung, das geht an die Grundfesten. Das hatten wir gerade erst in den Katalog aufgenommen, jetzt schaffen Sie es wieder ab.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Das Pflegebudget. Mit Verlaub, ich halte das wirklich für einen Irrsinn. Wir brauchen in der Pflege jetzt große Würfe. Wir brauchen bessere Arbeitsbedingungen. Wir brauchen wirklich eine Revolution in der Pflege. Ich nehme das Wort nicht oft in den Mund, aber es ist so.
(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer hat denn das Pflegebudget beschlossen?)
Wir müssen mutig sein und nach vorne gehen, und Sie kürzen jetzt das Pflegebudget. Sie nehmen Bereiche heraus wie zum Beispiel Hebammen, aber auch andere, die nicht mehr refinanziert werden, und schaffen so noch einmal eine Verschärfung in diesem wichtigen Bereich. Statt dass wir alles tun, damit man in der Pflege spürt, dass wir hinter ihr stehen, gehen Sie hier kontraproduktiv genau den falschen Weg.
(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf des Abg. Johannes Schraps [SPD])
Ich will auch noch etwas zum Thema Arzneimittel sagen. Die Pharmabranche und alle da wollen einen Beitrag leisten.
(Zuruf des Abg. Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Darum geht es gar nicht. Und sie müssen auch einen Beitrag leisten. Aber wie will man das machen, ohne einen Dialog mit den Unternehmen zu führen, ohne einen Pharmadialog anzustoßen? Wir werden den Innovations- und Forschungsstandort Deutschland kaputtmachen.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Wir feiern ihn für die Impfstoffe, für Paxlovid und für andere Medikamente, aber wir machen ihn hier kaputt. Denn wissen Sie, Wirtschaft hat etwas mit Vertrauen zu tun. Wenn Unternehmen nicht mehr in die Rahmenbedingungen vertrauen können, dann werden sie den Standort verlagern. Das ist der Fehler. Es geht nicht darum, einen gerechten Beitrag zu bringen. Es geht darum, wie man das macht, wie man den Dialog führt und wie man mit diesen Unternehmen umgeht, die Innovation und Forschung für die Menschen machen. Es geht um die beste Medizin für die Menschen, und das muss uns bewegen und muss uns auch gemeinsam nach vorne treiben.
(Zuruf der Abg. Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Herr Holetschek, gestatten Sie eine Zwischenfrage oder ‑bemerkung aus der FDP-Fraktion von Herrn Ullmann?
Na klar.
(Tino Sorge [CDU/CSU]: Die Bayern unter sich!)
Herr Holetschek, ich danke Ihnen, dass Sie die Frage zulassen. – Wie Sie wissen, komme ich aus Unterfranken. Sie kritisieren jetzt in Ihrer Rede ausgiebig die Fehlentscheidungen der vorherigen Gesundheitsminister, die auch aus der Union kamen. Meine Frage konkret an Sie für uns in Bayern: Ist die Bayerische Staatsregierung, die der Aufgabe der Krankenhausfinanzierung nicht nachkommt, jetzt dazu bereit, die Finanzierung der Krankenhäuser in Bayern voranzutreiben?
(Beifall bei der FDP, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Herr Kollege Ullmann, ich bin Ihnen außerordentlich dankbar für diese Frage. – Bayern investiert 643 Millionen im Rahmen der dualen Krankenhausfinanzierung. Seit 1972 sind 25 Milliarden Euro in bayerische Krankenhäuser geflossen, davon 60 Prozent in den ländlichen Raum. Jetzt müssen die Hausaufgaben gemacht werden zum Thema DRGs. Das ist aber nicht unsere Aufgabe, das ist die Aufgabe, die auf Bundesebene angegangen werden muss. Wir warten darauf, dass die entsprechenden Maßnahmen endlich ergriffen werden.
(Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ich will Ihnen noch einmal sagen: Ich glaube, dass die Situation zu explodierenden Beiträgen bei den Kassen führt, vielleicht sogar zu Schließungen, zu einer weiteren Konzentration; was nicht gut ist. Deswegen müssen wir gegensteuern. Ich würde mir wünschen, Herr Kollege Lauterbach, dass wir jetzt ein Moratorium für Bürokratieabbau auf den Weg bringen. Auch das ist ein wichtiges und zentrales Thema.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Wir müssen es tun. Die Menschen glauben nicht mehr, dass wir das schaffen, wenn wir es jetzt nicht tun. Wir dürfen nicht nur darüber reden.
(Zuruf der Abg. Heike Baehrens [SPD])
Zum Schluss eine Bitte: Kündigen Sie dieses Programm nicht mehr an, machen Sie es jetzt! Energiekosten, Pflege, Reha, Krankenhäuser – wir kriegen einen kalten Strukturwandel im ländlichen Raum. Die Krankenhäuser werden es nicht schaffen. Expertenschätzungen zufolge: 2,8 Milliarden Euro Sachkostensteigerung dieses Jahr, 1,7 Milliarden Energiekosten – das ist nicht mehr tragbar. Wir dürfen nicht mehr warten. Jeder Tag, an dem nichts passiert, ist ein verlorener Tag.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Martin Sichert [AfD])
Das gilt auch für Pflegeeinrichtungen. Das Wohngeld wird nicht ausreichen.
Zu den Rehaeinrichtungen: Wir zerstören jetzt Strukturen, die wir nachher wieder brauchen. Denken Sie an Long und Post Covid; Ihnen brauche ich das nicht zu sagen, weil Sie um die Bedeutung wissen. Wenn wir bei der Reha nichts machen, dann wird die entsprechende Struktur bald nicht mehr da sein.
Seien Sie mutig! Setzen Sie sich in der Koalition durch! Machen Sie Gesundheitspolitik für die Menschen in unserem Land! Die haben es verdient, nach der Pandemie erst recht.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Nächste Rednerin: für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Maria Klein-Schmeink.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7546166 |
Wahlperiode | 20 |
Sitzung | 55 |
Tagesordnungspunkt | Finanzielle Stabilisierung der gesetzlichen Krankenversicherung |