Ulrike BahrSPD - Kostenheranziehung in der Kinder- und Jugendhilfe
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau Ministerin! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Junge Menschen, die im Heim oder in Pflegefamilien aufwachsen, müssen sich an den Kosten beteiligen, wenn sie selbst Geld verdienen. Mit dieser sogenannten Kostenheranziehung soll bald Schluss sein; denn sie ist weder pädagogisch sinnvoll noch gerecht. Verbände der Erziehungshilfe, Heimräte, Pflegeeltern und natürlich junge Menschen, die betreut aufwachsen oder aufgewachsen sind, fordern die Abschaffung schon seit Langem. Darum bin ich wirklich glücklich darüber, dass wir jetzt vollenden, was wir mit dem Kinder- und Jugendstärkungsgesetz 2021 begonnen haben.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Bis 2021 mussten Jugendliche drei Viertel ihres selbst verdienten Geldes abgeben. Diese Praxis hat wirklich fast jede Motivation erstickt, eine Ausbildung zu beginnen oder eine Arbeit aufzunehmen. Mit der Reform im letzten Jahr ist vieles besser geworden. Von dem Geld, das junge Menschen mit Schülerjobs oder einer Ausbildung verdienen, dürfen sie 150 Euro ohne jeden Abzug behalten, bei Ferienjobs oder Aufwandsentschädigungen für ehrenamtliche Tätigkeit sogar das gesamte Selbstverdiente. Insgesamt ist die Kostenheranziehung auf 25 Prozent gedeckelt. Das ist schon viel besser. Aber: Der bürokratische Aufwand ist riesig; denn Grundlage für die Höhe der Kostenheranziehung sind jetzt immer die Einkünfte des laufenden Monats. Damit müssen sowohl die Einrichtungen als auch die Jugendämter Monat für Monat nachhalten, wie hoch die Kostenbeiträge für junge Menschen sind – ein Aufwand, der Zeit und Energie bindet für eine Regelung, die ich für pädagogisch enorm fragwürdig halte.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Martin Gassner-Herz [FDP])
Neben dieser pädagogischen Wirkung ist für mich aber auch die Frage der sozialen Gerechtigkeit wichtig. Junge Menschen, die in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe oder in Pflegefamilien aufwachsen, sind auch materiell meistens nicht auf der Sonnenseite des Lebens. Ein Verzicht auf die Kostenheranziehung kann hier für ein wenig Ausgleich sorgen. Wer zu Hause aufwächst, lebt durchschnittlich bis zum 24. Geburtstag bei den eigenen Eltern, und zwar ohne für Miete oder Verpflegung zu bezahlen. Und war es früher vielleicht einmal üblich, sogenanntes Kostgeld abzugeben, so ist das heute nicht mehr der Fall. Verantwortungsvolle Eltern ermutigen ihre Kinder allerdings, Geld anzusparen, mit dem sie später den Führerschein, die erste Wohnungseinrichtung, eine eigene Reise oder andere Dinge bezahlen können.
Das ist durchaus auch ein Erziehungsziel in der Heimerziehung. Ich habe im Gespräch mit Careleavern, die in Jugendhilfeeinrichtungen aufgewachsen sind, erst kürzlich gehört, dass sie sich wünschen, mehr rund um das Thema Geld zu lernen; denn zum Erwachsenwerden zählen nicht nur Kochen und Wäschewaschen, sondern auch der Umgang mit Geld, mit Banken und mit dem Finanzamt. Dafür ist in Pflegefamilien und Heimen weniger Zeit als bei jungen Menschen, die in ihrer Familie aufwachsen; denn auch nach der Reform des Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes sollen die jungen Menschen spätestens mit dem 21. Geburtstag auf eigenen Beinen stehen.
Ich hoffe darum auf die Zustimmung der Länder und Kommunen, um die Kostenheranziehung endlich komplett abzuschaffen. Sie sparen damit Verwaltungskosten und im Idealfall auch einiges an Startbeihilfen für junge Menschen, die beim Auszug aus den Jugendhilfeeinrichtungen dann selbst in der Lage sind, eine Kaution für die erste eigene Wohnung zu hinterlegen und sich einzurichten. Sie sparen auch, weil mehr junge Leute Lust haben und motiviert sind, eine Ausbildung zu beginnen, Erfahrung in Jobs zu sammeln und damit zu erleben, dass sie für sich selbst sorgen können und ihre Arbeit geschätzt wird.
Es ist außerdem richtig, dass junge Menschen in Eltern-Kind-Einrichtungen sich nicht mehr an den Kosten beteiligen sollen. Hier bekommen meist sehr junge Mütter Hilfe, um ihre Kinder selbstständig und verantwortungsvoll betreuen und erziehen zu können. Auch für sie ist es wichtig, eine Berufsausbildung zu machen, um eines Tages auf eigenen Beinen stehen zu können. Das gilt natürlich auch für junge Väter.
So weit, so gut. Ein breites Bündnis unterschiedlicher Träger hat aber auch eine Schwachstelle im vorliegenden Gesetzentwurf identifiziert: Junge Menschen mit Behinderung profitieren von der Abschaffung der Kostenheranziehung nämlich nicht, wenn sie eine Ausbildung machen und dafür ein sogenanntes Ausbildungsgeld erhalten. Die Begründung dafür lautet, das Ausbildungsgeld sei eine Leistung zum Lebensunterhalt. Dieser Lebensunterhalt sei aber bereits durch die Hilfen zur Erziehung, den Heimplatz oder die Unterbringung in einer Pflegefamilie abgedeckt.
Im Sinne einer wirklich inklusiven Kinder- und Jugendhilfe müssen wir hier noch einmal genauer hinsehen. Gemeinsam mit meiner Fraktion und der Ampel möchte ich das in der anstehenden Anhörung tun. Wir müssen kreative Wege finden, um auch für Jugendliche mit Behinderung finanzielle Anreize für eine Ausbildung zu setzen, mit der sie ihr individuelles Potenzial ausschöpfen können.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Abg. Martin Gassner-Herz [FDP] und Heidi Reichinnek [DIE LINKE])
Das nützt jedem Einzelnen in der Lebens- und Arbeitszufriedenheit und auch uns allen als Gesellschaft. Gerade wenn Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe künftig inklusiv arbeiten, entstehen sonst neue Ungerechtigkeiten und Spaltungen.
Ich wünsche mir von Ihnen allen und von den Landesregierungen einen breiten Rückhalt für den anstehenden wichtigen Schritt zur Stärkung der Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die in öffentlicher Verantwortung aufwachsen. Und ich bin zuversichtlich, dass wir den eingeschlagenen Weg mit der inklusiven Ausgestaltung der Kinder- und Jugendhilfe dann noch weitergehen werden.
Ich danke Ihnen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)
Ich möchte die Kolleginnen und Kollegen darauf hinweisen, dass die namentliche Abstimmung in fünf Minuten geschlossen wird. Wer also bis jetzt seine Stimme noch nicht abgegeben hat, den bitte ich, das noch zu tun.
Die nächste Rednerin in der Debatte ist Nicole Höchst, AfD-Fraktion.
(Beifall bei der AfD)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7546368 |
Wahlperiode | 20 |
Sitzung | 56 |
Tagesordnungspunkt | Kostenheranziehung in der Kinder- und Jugendhilfe |