Ralph BrinkhausCDU/CSU - Vereinbarte Debatte zur Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte mich heute damit beschäftigen, wie wir grundsätzlich mit langfristigen Themen hier im Deutschen Bundestag umgehen. Ich bezeichne das, was ich in den letzten Jahren erlebt habe, folgendermaßen, und zwar als seriellen Alarmismus.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Was bedeutet serieller Alarmismus? Er bedeutet: Wir haben immer ein Thema; da herrscht Vollalarm – davon sind die Debatten hier voll, darum geht es in den Talkshows, an den medialen Lagerfeuern, in den Zeitungen –,
(Dr. Jan-Niclas Gesenhues [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben bei keinem dieser Themen geliefert!)
und alle anderen Themen fallen irgendwie hinten herunter.
Gestern hat mich beim Besuch einer Schülergruppe eine Schülerin gefragt: Redet ihr eigentlich noch über Covid? Wir machen uns irgendwie Sorgen, was da im Winter passiert. Oder habt ihr nur noch ein Thema? – Meine Damen und Herren, es ist verständlich, dass wir uns momentan mit diesem großen Themenkomplex „Russland, Folgen des Krieges und Energiekrise“ beschäftigen; das ist auch sehr menschlich. Aber wenn Sie mal auf die letzten Jahrzehnte zurückblicken: Gab es nicht immer irgendwie ein großes Thema, das viel, viel wichtiger war?
Es hat irgendwann mal mit der Finanz- und Bankenkrise angefangen – die war dann ganz wichtig –, dann folgte die Eurokrise Teil eins, dann ist Fukushima hochgegangen, dann war die Eurokrise Teil zwei, dann haben wir nur über Migration geredet, dann hatten wir Trump, dann hatten wir noch den Brexit, und zum Schluss hatten wir Covid – immer ein großes Thema. Alle anderen Sachen sind dabei irgendwie hinten runtergefallen.
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Renten zum Beispiel!)
Jetzt will ich nicht sagen, dass da gar nichts gemacht worden ist; aber es ist nicht mit der genügenden Aufmerksamkeit gemacht worden.
(Anke Domscheit-Berg [DIE LINKE]: 16 Jahre wart ihr an der Regierung! – Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ich habe das gesehen, als ich mich 2018, als wir irgendwie sehenden Auges in die Situation hineingerannt sind, dass wir unsere Klimaziele nicht erreichen, gefragt habe: Wie konnte das eigentlich passieren?
(Dr. Jan-Niclas Gesenhues [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN], an die CDU/CSU gewandt: Redet ihr über eure eigene Regierungszeit?)
Denn eigentlich gab es auch damals schon Strategien, eigentlich ist auch damals schon was gemacht worden, eigentlich hat man auch damals schon Sachen umgesetzt. Trotzdem war immer irgendetwas Wichtigeres zu tun, und immer war irgendein Thema entscheidender als das Thema „Klima, Umwelt und Nachhaltigkeit“.
(Dr. Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war eine glatte Abrechnung mit den Regierungen der Union!)
Wir brauchen das gar nicht auf das Thema Umwelt zu beschränken. Wir rennen momentan bei den Sozialversicherungssystemen gegen eine Wand.
(Zuruf der Abg. Dr. Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Und ganz ehrlich: Wir wissen doch alle, dass die Abhängigkeit, die wir von Russland haben, ein Kindergeburtstag ist gegenüber der Abhängigkeit von China.
Das heißt, meine Damen und Herren: Langfristige Themen, Themen der Nachhaltigkeit fallen irgendwie immer hinten runter.
(Dr. Jan-Niclas Gesenhues [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum so viel Selbstkritik bei Ihnen?)
Warum ist das so? Wir führen jetzt eine Debatte zum Thema Nachhaltigkeit – ein großes Dach für viele Themen. Meine Vorrednerinnen und ‑redner haben das schon beleuchtet, und das wird heute auch noch beleuchtet werden. Es geht eben nicht nur um Klimapolitik, nicht nur um Umweltpolitik, sondern es geht um Armut, es geht um Hunger, es geht um Gesundheit, es geht um Gleichstellung und viele, viele andere Themen. Aber jetzt fragen wir uns doch einmal: Wo fließt das in unseren politischen Alltag ein?
Da gibt es erst einmal eine gute Nachricht. Die gute Nachricht ist: Die Vereinten Nationen haben sich auf 17 Ziele zur Nachhaltigkeit geeinigt. Wenn man weiß, wie schwierig es ist, auf dieser Ebene einen Konsens zu finden, dann erkennt man, dass es erst einmal wunderbar ist, dass das überhaupt möglich ist.
Es gibt eine zweite gute Nachricht: Diese Ziele sind sogar mit Indikatoren, mit Kennzahlen untersetzt worden. Das heißt, Politik bleibt nicht im Ungefähren – „man müsste mal“, „man könnte mal“, „es muss besser werden“ –, sondern es gibt konkrete Indikatoren, wie man so etwas messen kann, beispielsweise, Herr Riexinger, beim Thema Armut die Zahl der Menschen, die weniger als 1,25 Dollar am Tag zur Verfügung haben. Es gibt Zahlen zu Frauen in Führungspositionen. Es gibt Zahlen zu Übergewicht, zu Rauchern und natürlich auch zur Erfüllung der Klimaziele. Diese Zahlen gibt es.
(Dr. Jan-Niclas Gesenhues [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die schlechte Nachricht ist: Ihre Regierung hat die nie erreicht! – Zuruf des Abg. Jörn König [AfD])
Die dritte gute Nachricht, meine Damen und Herren, ist: Diese Zahlen werden sogar gemessen, hier in Deutschland beispielsweise jedes Jahr vom Statistischen Bundesamt. Auch Eurostat misst die Zahlen. Die Vereinten Nationen geben jedes Jahr einen Bericht heraus, wie sich die ganze Sache weiterentwickelt.
Aber hat das einen Einfluss auf unsere politische Tätigkeit hier?
(Katja Mast [SPD]: Ja!)
Ist es so, dass wir morgens aufstehen und sagen: Hey, welches Nachhaltigkeitsziel nehmen wir uns heute mal vor? Woran arbeiten wir heute? Was machen wir dagegen, dass die Ampel – das wird mit einem Ampelsystem gemessen – bei der einen oder anderen Kennzahl auf Rot oder Gelb steht? – Nein, unser politisches Tagesgeschehen wird doch davon geprägt, dass wir versuchen, den Tag zu gewinnen, dass wir versuchen, abends unfallfrei ins Bett zu kommen,
(Heiterkeit bei der CDU/CSU)
und dass man vielleicht nebenher noch das eine oder andere erledigen kann.
(Zurufe von der SPD)
Ich sage: Das ist kein Thema, meine Damen und Herren, nur von Opposition oder Regierung. Es geht uns alle an. Es ist übrigens auch kein Thema nur von Politik oder Medien. Es geht uns alle an, und da müssen wir alle uns in die Augen schauen und prüfen, was da passiert.
Und ja, Frau Ryglewski, natürlich haben wir einen Staatssekretärsausschuss. Es stellt sich nur die Frage: Wieso ist das eigentlich nicht ein hochkarätiger Ministerausschuss, wenn das Thema so wichtig ist? Wieso ist dieser Staatssekretärsausschuss erst nach neun Monaten in Gang gesetzt worden und nicht früher? Ja, wir haben einen Rat für Nachhaltige Entwicklung. Da wird tolle Arbeit gemacht; die letzte Tagung war am Montag. Ja, wir haben auch einen Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung; die Kolleginnen und Kollegen sitzen hier und sind alle ganz, ganz engagiert. Aber hat das, was da besprochen wird, Auswirkungen auf das, was wir hier in Gesetze gießen? Ich sage ganz ehrlich: viel zu wenig.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Bernd Riexinger [DIE LINKE])
Jetzt könnte ich sagen: In der Opposition ist Jammern genug, ich werfe ein paar Steine und mache alles schlecht. – Nein, das reicht nicht. Denn eines ist auch wichtig: Wir sind hier der Deutsche Bundestag, wir sind das Parlament. Wir haben es in der Hand, etwas zu ändern. Wir können dem Thema eine Bühne geben. Das machen wir heute in drei Stunden. Ich hätte mir an der einen oder anderen Stelle ein bisschen mehr Leidenschaft in der Debatte gewünscht.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Wir machen das heute in drei Stunden, aber – da sitzt der Kollege Miersch; wir haben es vereinbart – wir wollten eigentlich eine Woche daraus machen.
(Dr. Anja Weisgerber [CDU/CSU]: Ja!)
Wir hätten hier die Gelegenheit gehabt, in einer Woche – genauso wie wir es bei den Haushaltsberatungen machen – jedes Nachhaltigkeitsziel zu besprechen, jeden Minister zu hören, die Oppositionsvorschläge zu hören. Wir hätten die Gelegenheit gehabt, das in die Öffentlichkeit zu bringen, worüber viele leider viel zu wenig wissen. Diese Gelegenheit haben wir verpasst. Das ist jetzt vergossene Milch; das wird nichts mehr. Ich werbe wirklich dafür, dass die Mehrheit es beim nächsten Mal anders macht und mit uns beschließt, dass wir eine Nachhaltigkeitswoche machen.
Einen Satz gestatten Sie mir noch, Frau Präsidentin: Reden reicht nicht; es wird ja genug darüber geredet, dass es mal besser werden müsste. – Ich werbe sogar noch für ein weiteres Anliegen – das vielleicht ein bisschen als Gedankenfutter für die weitere Debatte –, nämlich dafür, dass wir genauso wie beim Haushaltsplan, bei dessen Aufstellung wir alle Haushaltskennzahlen in ein Dokument hineinschreiben, über das wir dann debattieren, alle Nachhaltigkeitskennzahlen in einem Nachhaltigkeitsplan zusammenfassen, dass wir uns dafür genauso wie für die Haushaltsberatungen zwei Wochen Zeit nehmen und dass wir dann die Regierung jährlich daran messen, ob die Ziele erfüllt worden sind oder nicht. Das wäre nachhaltig, und damit würden wir Nachhaltigkeit in den Deutschen Bundestag bringen.
Herzlichen Dank.
(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU)
Das war ein sehr langer letzter Satz, Herr Brinkhaus.
(Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: Aber ein notwendiger! – Dr. Anja Weisgerber [CDU/CSU]: Ein guter! – Thorsten Frei [CDU/CSU]: Es hat sich gelohnt!)
Nächste Rednerin: für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Tessa Ganserer.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7546405 |
Wahlperiode | 20 |
Sitzung | 57 |
Tagesordnungspunkt | Vereinbarte Debatte zur Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie |