30.09.2022 | Deutscher Bundestag / 20. EP / Session 58 / Zusatzpunkt 9

Johannes SchrapsSPD - Fiskalpolitische Disziplin in Europa

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Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Schriftführerinnen und Schriftführer! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist in der Tat gerade mal etwas mehr als ein Jahr her, verehrte Kolleginnen und Kollegen der Union, dass wir noch in einer gemeinsamen Koalition regiert haben. Vor knapp fünf Jahren haben wir den damaligen Koalitionsvertrag ausgearbeitet und seine Bestandteile anschließend Schritt für Schritt umgesetzt.

Gerade das bereits erwähnte Europakapitel war damals maßgeblich. Wir haben uns damals dazu bekannt, dass der Stabilitäts- und Wachstumspakt auch in Zukunft unser Kompass bleiben soll. „ Stabilität und Wachstum bedingen einander und bilden eine Einheit“, so hieß es damals im Koalitionsvertrag.

(Bettina Hagedorn [SPD]: Genau!)

Und wir waren uns einig, gemeinsam dafür einzutreten, dass Deutschland seiner europäischen Verantwortung in einem Geist partnerschaftlicher Zusammenarbeit und gegenseitiger Solidarität gerecht wird, verehrte Kolleginnen und Kollegen:

Deutschland hat Europa unendlich viel zu verdanken. Auch deshalb sind wir seinem Erfolg verpflichtet. Für Deutschland ist ein starkes und geeintes Europa der beste Garant für eine gute Zukunft in Frieden, Freiheit und Wohlstand.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Maik Außendorf [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Bettina Hagedorn hat es zitiert; das ist der Koalitionsvertrag von 2018.

Auch wir in der aktuellen Koalition wollen weiter ein starkes und stabiles Europa. Und insbesondere jetzt, wo zum ersten Mal seit Jahrzehnten wieder ein brutaler Angriffskrieg auf dem europäischen Kontinent stattfindet, brauchen wir dieses Europa mehr denn je, verehrte Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Aber ich frage Sie, Kolleginnen und Kollegen von der Union: Kann man ein starkes und stabiles Europa weiterentwickeln und weiter verbessern? Oder – wir sprechen ja über einen Unionsantrag; ich sollte mich vielleicht etwas weniger progressiv ausdrücken –: Kann man ein starkes und stabiles Europa bewahren, indem man die EU‑Mitgliedstaaten ohne finanzielle Unterstützung und jegliche Stabilität in einer Energie- und Wirtschaftskrise einfach so dastehen lässt? Ich sage mal so – es ist ja auch schon angesprochen worden –: Das konservative Krisenmanagement der Austeritätspolitik hat in der Europäischen Union nicht immer zu mehr Zusammenhalt, zu Stabilität und zur Eindämmung von Krisen geführt.

(Bettina Hagedorn [SPD]: Es hat gespalten!)

Im März 2020 haben wir – damals übrigens auch noch in einer gemeinsamen Koalition – die allgemeine Ausweichklausel des Stabilitäts- und Wachstumspaktes aktiviert. Sie merken in Ihrem Antrag völlig zu Recht an, dass es den EU‑Mitgliedstaaten damit möglich war, durch kreditfinanzierte zusätzliche Ausgaben ihre Volkswirtschaften in der Krise zu stabilisieren. Das ist ja deshalb offensichtlich unstrittig. Nun stellen Sie auch fest, dass diese Ausnahmeregelung als Reaktion auf die wirtschaftlichen Folgen des Ukrainekrieges von der EU‑Kommission um ein weiteres Jahr bis 2023 verlängert wurde. Sie kritisieren das, indem Sie feststellen, dass der Stabilitäts- und Wachstumspakt damit seit fast vier Jahren außer Kraft gesetzt sei, und fordern, in den bestehenden fiskalischen Regelrahmen zurückzukehren und die Ausweichklausel zu deaktivieren.

Ich darf mal versuchen, das in etwas einfachere Sprache zu übersetzen: Also Sie stellen fest, dass die Möglichkeiten dieser Ausweichklausel vielen Ländern und der Europäischen Union insgesamt geholfen haben, sich in einer akuten Krisensituation zu stabilisieren, und haben das ja als Teil der vorherigen Koalition richtigerweise mitgetragen. Heute, mit diesem Antrag, wollen Sie das, was damals funktioniert hat, indem es stabilisierend gewirkt hat, in einer Situation, wo wir es sogar mit multiplen Krisensituationen zu tun haben, so schnell wie möglich nicht mehr weitermachen und lieber wieder auf das Pferd setzen, das schon früher nicht so richtig etwas gebracht hat. Ich weiß ja nicht so recht, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Bettina Hagedorn [SPD]: Ja, genau!)

Kollege Lieb von der FDP hat es angesprochen, und auch ich kann in Ihrem Antrag, ehrlich gesagt, keinerlei konkrete Lösungsvorschläge erkennen, wie die EU‑Mitgliedstaaten bei dann wieder strengeren Vorschriften in der aktuellen akuten Krisenlage für finanzielle Stabilität sorgen könnten. Einige wirtschaftlich starke Länder – in Klammern: Deutschland – könnten das möglicherweise hinbekommen,

(Stephan Brandner [AfD]: Große Klammern!)

andere aber möglicherweise nicht. Ich sage mal: Zumindest mit dem Geist der partnerschaftlichen Zusammenarbeit und der gegenseitigen Solidarität aus dem Koalitionsvertrag von 2018, zu dem Sie sich damals bekannt haben, kann ich Ihre jetzigen Forderungen nicht mehr verbinden. Es ist schade, das zu hören.

(Bettina Hagedorn [SPD]: So ist es!)

Dabei will ich gar nicht bestreiten, dass der Stabilitäts- und Wachstumspakt reformiert und weiterentwickelt werden muss. Das ist, wenn ich es in Ihrem Antrag richtig lese, ja auch bei Ihnen Konsens. Wenn man sich die Geschichte seit der Einführung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes vor knapp 30 Jahren anschaut, dann muss man ja tatsächlich feststellen: Die Maastrichter Kriterien sind nicht immer eingehalten worden.

(Kay Gottschalk [AfD]: Nie! Sie sind nie eingehalten worden!)

In den Jahren nach der Staatsschulden- und Eurokrise fand in vielen Mitgliedstaaten der Europäischen Union zwar eine fiskalische Konsolidierung statt, nun – im Angesicht der Covid‑19-Pandemie und der Inanspruchnahme von massiven fiskalischen Konjunktur- und Investitionsprogrammen – sind zahlreiche Mitgliedstaaten aber teilweise erneut weit entfernt von der Einhaltung der EU‑Fiskalregeln. Reformbedarf ist also in der Tat klar. Die Europäische Union hat das aber offensichtlich auf dem Schirm; denn mit ihrer Mitteilung aus dem vergangenen Oktober hat sie ja eine Reform des Stabilitäts- und Wachstumspaktes angeregt und die Mitgliedstaaten und das Europäische Parlament zu einem Diskussionsprozess hierzu eingeladen. Man könnte auch sagen: sie dazu aufgefordert.

Als Sozialdemokraten haben wir uns mit unseren Koalitionspartnern auf eine weitere Vorgehensweise verständigt. Die Prinzipien der Bundesregierung für die Reformdiskussion zu den EU‑Fiskalregeln sind ja in Ihrem Antrag und auch hier in der Debatte schon mehrfach angesprochen worden. Denn es ist in der Tat enorm wichtig, gerade jetzt an gemeinsamen Lösungen zur Stärkung und Vertiefung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes zu arbeiten, um die europäische Stabilität in diesen Krisenzeiten zu gewährleisten, verehrte Kolleginnen und Kollegen. Und dabei geht es keineswegs darum, dass irgendwie Geld aus dem Fenster geschmissen werden soll, wie Sie mit Ihren Vorwürfen immer so ein bisschen untergründig suggerieren. Vielmehr geht es darum – da will ich gerne Kanzler Olaf Scholz aus der Europaausschusssitzung am Mittwoch, zu der er aus Coronagründen digital zugeschaltet war, zitieren –: Transformationsinvestitionen müssen auch in diesen Zeiten möglich sein! – Und damit hat er vollkommen recht.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Zukunftsinvestitionen sind nicht nur notwendig, um in Zukunft Investitionsschulden – Kollegin Schäfer hat darauf hingewiesen – zu vermeiden, sondern sie zahlen sich auch aus; denn sie führen letztlich zu einer Stärkung unserer Volkswirtschaft in der Zukunft. Deshalb haben wir auch im Koalitionsvertrag ganz klar verankert, verehrte Kolleginnen und Kollegen: Wir wollen

die nötigen Zukunftsinvestitionen gewährleisten, insbesondere in Klimaschutz, Digitalisierung, Bildung und Forschung sowie die Infrastruktur,

– in notwendigen Ausbau und Sanierung –

auch um die deutsche Wirtschaft zukunftsfest und nachhaltig aufzustellen und Arbeitsplätze zu sichern.

(Bettina Hagedorn [SPD]: So ist es!)

Es ist wichtig, dass es den Stabilitäts- und Wachstumspakt gibt. Denn die exzessive Verschuldung eines Mitgliedstaates kann natürlich auch Auswirkungen auf andere Mitgliedstaaten mit sich bringen und damit möglicherweise die Stabilität der gesamten Währungsunion gefährden. Fiskalregeln sind in einem gemeinsamen Währungsraum notwendig.

Genauso wichtig ist es aber auch, dass der Stabipakt kein starres Gebilde ist und dass er weiterentwickelt wird. In diesem Sinne gehört die hohe Flexibilität, die wir mit der Ausweichklausel nutzen, gerade zu den großen Stärken des Stabilitäts- und Wachstumspaktes.

(Bettina Hagedorn [SPD]: So ist es!)

Das hat dieses fiskalische Regelwerk der Europäischen Union zuletzt in der Pandemie eindrucksvoll bewiesen, indem es an zentralen Stellen die Berücksichtigung spezifischer Umstände erlaubt hat und damit Möglichkeiten eröffnet hat, wo es sonst nur Stillstand gegeben hätte.

Auf dieser Grundlage kann man aufbauen und die Vorschläge aus dem Prinzipienpapier der Bundesregierung für die Weiterentwicklung des Stabilitäts- und Wachstumspakts nutzen. Mit mehr Transparenz und Effizienz, mit einer Konkretisierung der Kriterien bei der Anwendung der allgemeinen Ausweichklausel oder auch mit der Herstellung einer größeren organisatorischen Unabhängigkeit des European Fiscal Boards von der Europäischen Kommission.

All das sind Vorschläge, die man diskutieren kann. Die Schuldentragfähigkeit und die Sicherung solider öffentlicher Haushalte bleiben dabei aber wichtige Kernziele. Es braucht deshalb klare und schrittweise Pläne für den Abbau von Schulden. Schuldenabbau bleibt das Ziel, aber – und da ist der große Unterschied – ohne dabei die Herausforderungen von Inflation und Krisensituationen aus dem Blick zu verlieren, verehrte Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das ist der einzige Weg, wie wir sowohl wirtschaftliche als auch politische Stabilität innerhalb der Europäischen Union beibehalten können. In der aktuellen Krise ist die Stärke Europas auch unsere Stärke, verehrte Kolleginnen und Kollegen, und zwar mehr denn je.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Das Wort hat der Abgeordnete Norbert Kleinwächter für die AfD-Fraktion.

(Beifall bei der AfD)

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Electoral Period 20
Session 58
Agenda Item Fiskalpolitische Disziplin in Europa
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