13.10.2022 | Deutscher Bundestag / 20. WP / Sitzung 60 / Tagesordnungspunkt 7

Jens TeutrineFDP - Bürgergeld-Gesetz, Sozialer Arbeitsmarkt

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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Versprechen unseres Sozialstaates ist, diejenigen mit einem sozialen Sicherungsnetz aufzufangen, die nicht mehr in der Lage sind, für sich selbst sorgen zu können. Dabei liegt die Betonung bewusst auf „können“. Ein Sozialstaat, dem es aber nur darum geht, finanzielle Bedürftigkeit zu fördern, ist nicht an sich sozial. Sozial ist er erst, wenn er auch Menschen dabei unterstützt, sich durch eigene Arbeit aus der sozialen Bedürftigkeit zu befreien. Das ist aber kein Widerspruch. Solidarität und der Ansatz, Menschen in Arbeit zu integrieren, ist kein Widerspruch, sondern beides gehört zu den Grundsäulen des Sozialstaates.

(Beifall bei der FDP, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Gucken wir doch mal ins Gesetz. Sie haben gesagt, den Arbeits- und Fachkräftemangel werde das Bürgergeld nicht vollkommen beseitigen können; wir hätten so viele offene Stellen auf der einen und so viele Menschen in Arbeitslosigkeit auf der anderen Seite. – Hartz IV hat das auch nicht geschafft.

(Katharina Dröge [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)

Ihr System, das Sie heute verteidigen und das Sie so beibehalten wollen, das Sie nicht verändern wollen, hat dieses Problem auch nicht gelöst.

(Beifall bei der FDP, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ein Beispiel, wieso das nie gelöst wurde, sind die absurden Hinzuverdienstregelungen im Hartz‑IV-System. Wenn Menschen anfangen, mehr zu arbeiten, die Motivation haben, sich Stück für Stück mit einem Job herauszuarbeiten, dann sind die Regelungen so, dass Menschen zum Teil weniger haben, wenn sie mehr arbeiten gehen und aufstocken.

Der Anreiz ist genau falsch gesetzt.

(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Der Anreiz muss so sein: Menschen, die mehr arbeiten, haben auch immer mehr in der Tasche. Deswegen passen wir die Hinzuverdienstregelungen – ich weiß, dass Sie im Kern die Reform der Hinzuverdienstregelungen teilen – in einem ersten Schritt an, und zwar oberhalb der Minijobs. Wir wollen nicht, dass Menschen in Minijobs gefangen sind, sondern, dass sie sich mithilfe sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungen herausarbeiten. Deshalb werden wir die Hinzuverdienstregelungen entsprechend anpassen. Das ist ein Schritt der Leistungsgerechtigkeit für unser Land.

(Beifall bei der FDP, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Norbert Kleinwächter [AfD]: Sprechen Sie nicht von Leistungsgerechtigkeit beim Bürgergeld, bitte nicht!)

Die jungen Menschen, die in einer Bedarfsgemeinschaft aufwachsen, dürfen in Zukunft, wenn sie eine Ausbildung machen, wenn sie zur Schule gehen, die Einkünfte aus ihrem Nebenjob behalten. Es ist eine Absurdität des Leistungsprinzips, dass junge Menschen, die sich etwas hinzuverdienen, davon nichts haben dürfen. Hartz IV vermittelt diesen jungen Menschen: Geh nicht arbeiten! Bleib im System! Streng dich nicht an! Diese Botschaft kehren wir um; denn das setzt sich im Kopf von jungen Menschen fest. Das ist eine weitere wichtige Änderung beim Bürgergeld.

(Beifall bei der FDP, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE])

Ich möchte noch etwas sagen. Sie haben uns für unseren Haushalt kritisiert. Ich habe mir noch mal die Anträge angeguckt, die Sie bei den letzten Haushaltsberatungen zum Haushalt des BMAS vorgelegt haben. Sie haben gefordert, die Mittel für die Jugendberufsagenturen zu halbieren. Den jungen Menschen, die in Arbeitslosigkeit sind, wollten Sie die Mittel weghalbieren. Sie haben gefordert, die Mittel für die berufliche Integration und die Beratung von Zuwanderern in den Arbeitsmarkt zu halbieren. Sie wollten nicht die ukrainischen Geflüchteten in den Arbeitsmarkt bringen, Sie wollten die Mittel halbieren.

(Zurufe von der SPD sowie der Abg. Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hört, hört! – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist ja mal ein Ding!)

Die Mittel für die Fachkräfteoffensive im Bundeshaushalt wollten Sie ebenfalls halbieren. Tun Sie nicht so, als wenn Sie Menschen in den Arbeitsmarkt integrieren wollten, wenn das Ihre Haushaltspolitik ist!

(Beifall bei der FDP, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das sind die Fakten. Das waren Ihre Anträge. Das sind nicht unsere Anträge.

Herr Stracke, wir teilen doch das Gebot – und ich finde das wichtig –, dass derjenige, der arbeiten geht, stets mehr haben muss als derjenige, der nicht arbeitet. Da sind wir uns einig. Sind Sie aber im Kern wirklich gegen die Regelsatzerhöhung?

Herr Stracke, Sie haben auch gesagt, dass die Mehrleistungen vollkommen an der Realität vorbeigehen. Herr Whittaker, Ihr CDU-Kollege, der gleich sprechen wird, hat bei Twitter nach der Sitzung des Koalitionsausschusses, in der das beschlossen wurde, kommentiert: „Richtiger Impuls, Regelleistungen zu erhöhen, wenn die Inflation massiv steigt“. Das müsse gemacht werden. Ich war mit Julia Klöckner bei „Unter den Linden“, wo sie gesagt hat – Sie können sich vielleicht erinnern –: Wir sind nicht gegen eine Regelsatzerhöhung. Davon gehe ich aus, dass die Regelsatzerhöhung auf rund 500 Euro kommen wird. Oder wenn man sich den Hartz‑IV-Warenkorb anschaut: Wenn Lebensmittel um 17 Prozent teurer geworden sind, dann ist es richtig, den Regelsatz zu erhöhen.

(Beifall der Abg. Dagmar Schmidt [Wetzlar] [SPD])

Es ist unredlich, auf der einen Seite in der Öffentlichkeit zu sagen: „Wir wollen die Regelsätze erhöhen“, und auf der anderen Seite mit den Ängsten der Menschen in der Energiekrise zu spielen. Das ist der Grund, wieso Menschen, die vorher auf der Stelle gestanden haben, momentan das Gefühl haben, jetzt zurückzufallen. Mit diesem Gefühl zu spielen, das ist das Geschäft von Populisten.

(Beifall bei der FDP, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es ist eine Frage der Redlichkeit, in dieser Debatte bei den Fakten zu bleiben. Die Fakten sind – das wissen Sie –, dass es eine Inflationsanpassung geben muss. Sonst sagen Sie öffentlich, dass Sie dagegen sind, dass Sie den Regelsatz bei 450 Euro belassen wollen.

(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das haben wir ja gerade gehört!)

Zu den Fakten gehört auch: Die Sanktionen werden zum allergrößten Teil beibehalten. Bis zu 30 Prozent kann bei Meldeversäumnissen sanktioniert werden. Das ist bei Pflichtverletzung das Maximum, das das Bundesverfassungsgericht zulässt.

(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Toll! Dann kommt die Einladung um 11 Uhr, und um 16 Uhr soll der Termin sein!)

Dann kritisieren Sie die Vertrauenszeit. In der Vertrauenszeit können Meldeversäumnisse, wenn jemand nicht zu einem Termin kommt, ebenfalls sanktioniert werden.

(Norbert Kleinwächter [AfD]: So?)

Das sind 75 Prozent aller Sanktionen, das ist der Großteil der Sanktionen, die weiterhin auch in der Vertrauenszeit ausgesprochen werden.

(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das interessiert die Union doch nicht!)

Kritisieren Sie uns dafür, was wir machen, kritisieren Sie das Bürgergeld, aber hören Sie auf, auf Grundlage falscher Fakten in der Öffentlichkeit Stimmung zu machen! Das ist brandgefährlich.

(Beifall bei der FDP, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zurufe von der CDU/CSU)

Sie haben in Niedersachsen das Ergebnis gesehen. Es braucht eine Oppositionspartei, die die Regierung treibt. Es braucht eine Oppositionspartei in der Mitte, die uns kritisiert.

(Zuruf des Abg. Kai Whittaker [CDU/CSU])

Aber kritisieren Sie uns für das, was wir wirklich machen, und erfinden Sie keine Fake News! Das ist gefährlich, ob bei Regelsatzerhöhung oder Sanktionen. Hören Sie auf mit diesem Geschäft! Hören Sie auf, von Sozialtourismus zu sprechen! Das ist ein gefährliches Geschäft, was Sie machen.

(Beifall bei der FDP, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Dr. Götz Frömming [AfD]: Ihr könnt gleich mit den Linken koalieren!)

Nächste Rednerin: für die Fraktion Die Linke Jessica Tatti.

(Beifall bei der LINKEN)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7546843
Wahlperiode 20
Sitzung 60
Tagesordnungspunkt Bürgergeld-Gesetz, Sozialer Arbeitsmarkt
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