Jakob BlankenburgSPD - Änderung des Atomgesetzes
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute in erster Lesung über den von der Ampelkoalition vorgelegten Gesetzentwurf zur Änderung des Atomgesetzes. Dieser sieht vor, dass die drei Atomkraftwerke Isar 2, Neckarwestheim 2 und Emsland erst am 15. April 2023 und nicht, wie ursprünglich geplant, Ende dieses Jahres vom Netz gehen.
Die Koalition aus SPD, Grünen und FDP strebt also an, Atomkraftwerke dreieinhalb Monate länger am Netz zu lassen als ursprünglich geplant – ein durchaus bemerkenswerter Schritt, ein Schritt, der vor einem Jahr für mich als frisch gewählten Abgeordneten unter anderem für das Wendland, die Keimzelle des Anti-AKW-Protests in Deutschland, vollkommen unvorstellbar gewesen wäre.
(Andreas Bleck [AfD]: Willkommen in der Realität!)
Zu lange musste im Wendland und in vielen anderen Ecken Deutschlands auf der Straße für den Atomausstieg gekämpft werden, genauso wie hier im Bundestag, vor allen auf der linken Seite des Hauses.
Heute stehe ich vor Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, und sage: Es ist richtig, dass wir die Änderung des Atomgesetzes auf den Weg bringen. Die Situation im November 2022 unterscheidet sich fundamental von der im November 2021: Wir leben in Zeiten eines abscheulichen Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine. Russland führt diesen Krieg auf ukrainischem Boden gegen das ukrainische Volk, und Russland führt einen Energiekrieg, der Deutschland und viele andere Länder trifft.
Die Unterbrechung der russischen Erdgaslieferungen kommt zusammen mit einem unzureichenden Ausbau der Windkraft und der Stromnetze, gerade in Süddeutschland – wir haben es in den Zwischenrufen gerade eben zu Recht gehört –, und dem Ausfall eines substanziellen Anteils der französischen Kernkraftwerke. Das hat die Lage auf den Energiemärkten weiter verschärft. Diese angespannte Energieversorgungssituation ist der Grund, warum wir hier heute die Änderung des Atomgesetzes diskutieren.
Der Stresstest der vier Übertragungsnetzbetreiber hat gezeigt, dass wir im kommenden Winter im schlimmsten – ich wiederhole: im schlimmsten – Szenario temporäre regionale Stromausfälle – und keine Blackouts, wie immer wieder von der rechten Seite des Hauses glaubhaft gemacht wird –
(Widerspruch des Abg. Jörg Schneider [AfD])
in Deutschland nicht komplett ausschließen können, und das trotz der zahlreichen Maßnahmen, die durch die Bundesregierung bereits getroffen wurden. Deshalb gehen wir nun diesen Schritt des Weiterbetriebs der drei noch am Netz befindlichen Atomkraftwerke für die kommenden Wintermonate.
Was der SPD-Bundestagsfraktion und mir dabei besonders wichtig war: Dieser Weiterbetrieb erfolgt als Streckbetrieb. Es werden keine neuen Brennstäbe gekauft.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Stattdessen, liebe Kolleginnen und Kollegen, werden die bereits in den AKW genutzten Brennstäbe so neu konfiguriert, dass sie noch für einen etwas längeren Zeitraum Energie liefern können. Wir schöpfen die bereits bestehenden Energiequellen also voll aus. Das ist das, was wir in der besonders angespannten Energiesituation brauchen.
Was wir mit dem Gesetzentwurf nicht tun, ist das, was Sie von der Opposition fordern und was ja auch koalitionsintern in den letzten Monaten intensiv diskutiert wurde: Wir kündigen den Atomausstieg nicht auf.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Wir halten an dem fest, liebe Kolleginnen und Kollegen, worum jahrzehntelang gerungen wurde und was 2011 in diesem Hohen Hause mit sehr breiter Mehrheit beschlossen wurde, übrigens auch von Ihrer Fraktion, sehr geehrte Frau Weisgerber: dem Ende der Hochrisikotechnologie Atomkraft.
(Zurufe der Abg. Dr. Hendrik Hoppenstedt [CDU/CSU] und Dr. Klaus Wiener [CDU/CSU])
Das ist wichtig; denn das, was 2011 galt, gilt auch heute, elf Jahre später.
Punkt eins. Atomkraft ist für den Menschen nicht beherrschbar und birgt gewaltige Sicherheitsrisiken. Das haben wir 1986 in Tschernobyl erlebt, 2011 in Fukushima und auch jetzt, im Jahr 2022, mit den gezielten Angriffen auf ukrainische Atomkraftwerke wie das in Saporischschja. Menschliches Versagen, Naturkatastrophen, kriegerische Angriffe – sie alle können zu nuklearen Zwischenfällen von gewaltigem Ausmaß führen und damit Menschenleben zerstören und die Natur für Jahrzehnte oder Jahrhunderte unwirtlich machen.
Selbst wenn die Nutzung der Atomenergie ohne Störfälle gelingt, dann bleibt immer noch Punkt zwei: die Frage der sicheren Endlagerung der hochradioaktiven Hinterlassenschaften der Nutzung der Atomenergie. Sie ist weiter ungeklärt. Jeden Tag, an dem wir die Atomenergie weiter nutzen, produzieren wir mehr Abfälle, von denen wir bis heute nicht wissen, wohin, und das ist eine gewaltige Bürde für die nachkommenden Generationen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Damit komme ich zu Punkt drei. Atomenergie ist teuer, auch wenn Sie als Vertreter/-innen der Opposition uns immer wieder etwas anderes glauben machen wollen. Wir haben es gerade eben in der Anhörung im Umweltausschuss gehört: Atomenergie ist die teuerste der Energieformen. Sie ist deutlich teurer als Strom aus den Erneuerbaren,
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Klaus Wiener [CDU/CSU]: Das stimmt nicht für die Grenzkosten! Gucken Sie mal nach, was Grenzkosten sind!)
und allein die Zwischen- und Endlagerung – das müssen Sie sich bewusst machen – der radioaktiven Abfälle verschlingt mehr als 1 Milliarde Euro jedes Jahr.
(Andreas Bleck [AfD]: Deswegen hat Frankreich auch nur die Hälfte der Energiepreise wie wir!)
Diese Punkte haben 2011 den Ausschlag für die politische Entscheidung gegen die weitere Nutzung der Atomenergie gegeben. Mit dieser Entscheidung wurde ein gesellschaftlicher Konflikt befriedet, und es wurde die Basis für ein strukturiertes Verfahren der Endlagersuche geschaffen.
(Zuruf des Abg. Dr. Klaus Wiener [CDU/CSU])
An diesem im Standortauswahlgesetz festgelegten Verfahren müssen wir festhalten, statt mit immer wiederkehrenden Debatten um eine Renaissance der Atomkraft Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Atomausstiegs zu nähren.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns einen Schlussstrich unter diese Debatte ziehen! Genau das machen wir mit dieser Änderung des Atomgesetzes. Die Debatte lenkt von den wirklich wichtigen Fragen ab. Wir müssen jetzt unter Hochdruck am Umbau unserer Energieversorgung hin zu Unabhängigkeit und Nachhaltigkeit arbeiten, und Atomenergie ist dafür definitiv nicht die Lösung.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Wir brauchen stattdessen mehr Strom und Wärme aus Erneuerbaren, und wir brauchen Übertragungsnetze, damit der Strom auch dahin gelangt, wo er gebraucht wird. Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, dass diese Vorhaben gelingen, statt Zeit mit den Debatten der Vergangenheit zu verschwenden!
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Dr. Rainer Kraft.
(Beifall bei der AfD)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7547692 |
Wahlperiode | 20 |
Sitzung | 65 |
Tagesordnungspunkt | Änderung des Atomgesetzes |