Anikó Glogowski-MertenFDP - Vereinbarte Debatte - Bekämpfung von Antisemitismus
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Werte Gäste auf der Tribüne! Es sind eigentlich so manche Worte an diesem Pult, die das Erinnern vergiften. – Dieser Satz sei mir gestattet.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Jüdisches Leben gehört zu Deutschland. Das gilt für die Vergangenheit genauso wie für die Zukunft. Die Novemberpogrome und das, was daraus folgte, sind jedoch in unser kollektives Gedächtnis als grauenhafte Verbrechen eingebrannt; jüdisches Leben sollte in Deutschland komplett vernichtet werden. Die Aufarbeitung der Vergangenheit ist mitnichten eine Selbstverständlichkeit. Erinnerungskultur braucht Raum. Sie braucht Orte, innerhalb derer sie sich entfalten kann. Sie braucht Mut und Zuversicht.
In meinem Heimatwahlkreis Braunschweig hatte ich vor Kurzem das Glück, einen dieser Orte, das Braunschweiger Landesmuseum „Hinter Aegidien“, an welchem wir die Erinnerungskultur für jüdisches Leben in Deutschland pflegen, dokumentieren und archivieren, zu besuchen. Die Sammlung von Objekten des religiösen Gebrauchs gehört zu den historisch bedeutendsten in Deutschland. Sie ist ein Zusammenspiel aus Erinnerung, Dokumentation und Aufarbeitung. Letzteres ist vor allem dann unabdingbar, wenn es um die Schaffung von Perspektiven für die Gegenwart, aber auch für die Zukunft jüdischen Lebens geht.
Die historische Aufarbeitung der Novemberpogrome und des Holocausts wirft stets auch die Frage von Schuld und Verantwortung auf. Die Auseinandersetzung mit diesem Teil unserer Vergangenheit ist und bleibt schmerzhaft, aber auch unabdingbar. Die Frage nach der historischen Verantwortung ist für jede Generation, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Deutschland geboren wurde, eine sich immer wieder aufs Neue stellende Herausforderung. Umso wichtiger ist es, bewusst Raum für die Präsenz jüdischen Lebens in Deutschland zu schaffen.
Bis heute ist jüdisches Leben in Deutschland bedroht. Der Hass auf Jüdinnen und Juden nimmt vielerorts zu. Dies bestätigen leider auch die Zahlen des Bundeskriminalamtes für antisemitisch motivierte Straftaten. Nur wenige Straßenzüge von hier entfernt steht die Synagoge der jüdischen Gemeinde Berlins unter andauerndem Polizeischutz, und auch an der Braunschweiger Synagoge kann zum heutigen Gedenken an die Reichspogromnacht die Kranzniederlegung wieder nicht ohne Gegenwart eines Streifenwagens stattfinden.
Ich wünsche mir sehr, dass jüdisches Leben 84 Jahre nach den furchtbaren Vorfällen der Reichspogromnacht Raum im öffentlichen Leben in Deutschland findet. Ich wünsche mir, dass die Präsenz jüdischen Lebens zur Normalität und zur Pluralität unseres Alltags in der Bundesrepublik gehört, dass es möglich und selbstverständlich ist, ohne Angst und Hass jüdische Religion und Kultur im privaten und öffentlichen Raum in Deutschland zu praktizieren und zu leben.
Die bewusste Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, das Pflegen von Erinnerungskulturen, wie es zum Beispiel durch das Landesmuseum Braunschweig, aber auch an vielen anderen Orten praktiziert wird, schafft, so hoffe ich, weiterhin die Grundlage für die Entfaltung jüdischen Lebens in Deutschland. Wir brauchen einen sensiblen Umgang mit unserer Erinnerungskultur – im Inneren wie auch im Ausland.
(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)
Das verdeutlichte auch eine für diese Woche geplante Veranstaltung des Goethe-Instituts in Kooperation mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tel Aviv; meine Kollegin Linda Teuteberg hat es angesprochen.
Es ist unsere Pflicht als Menschen, nicht wegzusehen, wenn jüdischem Leben in Deutschland das Existenzrecht abgesprochen wird. Es ist unsere Pflicht, Räume zu schaffen und zu bewahren, in denen die Erinnerung an jüdische Kultur in Deutschland bewusst gepflegt und erhalten wird. Wir brauchen auch für zukünftige Generationen, die noch vor der schwierigen Auseinandersetzung mit den Erinnerungen an die Pogrome und den Holocaust stehen, kollektive Anknüpfungspunkte und Orte in Form von Museen und Synagogen, vor allem aber auch Menschen, die die Erinnerung nicht vergessen.
Wir müssen Orte der Erinnerung schaffen und erhalten; denn Handeln im Hier und Jetzt, das Einstehen für Präsenz jüdischen Lebens im öffentlichen Raum, setzt Bewusstsein um das Geschehene voraus und um die historische Verantwortung, die damit einhergeht.
Kommen Sie zum Schluss, bitte, Frau Kollegin.
Denn ganz im Sinne dieser Debatte, meine sehr verehrten Damen und Herren: Erinnern heißt handeln. Es heißt, Erinnerungskultur bewusst zu pflegen.
Frau Kollegin, bitte kommen Sie zum Schluss.
Es heißt, Raum für jüdisches Leben in Deutschland zu schaffen. Es heißt, nachzufragen, wenn es unangenehm ist. Und es heißt, nicht wegzusehen, wenn seine Existenz bedroht wird.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der FDP, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Frau Kollegin Glogowski-Merten, das Lächeln hilft auch nicht, wenn Sie die Zeit so überschreiten. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Simona Koß, SPD-Fraktion.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7547732 |
Wahlperiode | 20 |
Sitzung | 65 |
Tagesordnungspunkt | Vereinbarte Debatte - Bekämpfung von Antisemitismus |