09.11.2022 | Deutscher Bundestag / 20. WP / Sitzung 65 / Tagesordnungspunkt 5

Volker UllrichCDU/CSU - Vereinbarte Debatte - Bekämpfung von Antisemitismus

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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bereits im Jahr 2019 hat Rabbiner Henry Brandt gewarnt – Zitat –: „Der Antisemitismus zeigt wieder seine Fratze.“ Henry Brandt wurde 1927 in München geboren. Im November 1938 ist er mit seinen Eltern nach Israel geflüchtet und konnte so der Ermordung entkommen. Er diente als Soldat in der israelischen Armee, wurde in London zum Rabbiner ausgebildet und kehrte in das Land seiner Eltern, in sein Land zurück. Allein das ist eine Gnade. Er wurde Vorsitzender der Rabbinerkonferenz, war bis zuletzt Rabbiner in meiner Heimatstadt Augsburg. Er ist im Frühjahr dieses Jahres gestorben. Er hat gesagt:

Ich bin überzeugt, dass das Gespräch, die Konfrontation mit Unterschieden und Geschichte die beste Waffe gegen Antisemitismus und Vorurteile ist …

Geschichte. Die Novemberpogrome des Jahres 1938 haben in den Abgrund der Shoah, in die Ermordung von Millionen und in die Entmenschlichung verwiesen – mit all der Verantwortung von jenen, die mitgemacht oder auch nur weggeschaut haben. Wir müssen aber auch die Zeit vor dem 9. November 1938 vor Augen haben. Wie konnte es dazu kommen? Die Antworten sind: Es waren antisemitische Verschwörungserzählungen im Umlauf, Vorurteile und Verrohung in der Sprache, gesellschaftliche Ausgrenzung und Stigmatisierung. Es ist heute nicht wie damals; aber die Mechanismen funktionieren ähnlich. Deswegen müssen wir stets wachsam sein.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Unser Anspruch muss sein: Juden müssen heute ohne Angst leben können – überall. Aber ist das stets möglich, wenn Schulen, Kindertagesstätten und Synagogen polizeilich geschützt werden müssen? Ist das möglich, angesichts von 3 000 antisemitischen Straftaten? Die meisten kommen aus dem rechtsextremen Spektrum.

(Beatrix von Storch [AfD]: Das ist Quatsch, und das wissen Sie! Sie wissen, dass das nicht stimmt! – Gegenruf des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Klar stimmt das!)

Dazu hätte ich mir von der rechten Seite des Hauses etwas gewünscht; aber es war absehbar, dass dazu nichts kommt.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Es gibt auch islamistischen und linksextremistischen Antisemitismus, gar keine Frage.

(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Es gibt auch den der Mitte!)

Und er beginnt nicht mit strafbaren Handlungen; das wäre eine unzulässige Verengung, eine geradezu gefährliche Sichtweise. Wir dürfen nicht schweigen über Antisemitismus, der sich mit Verschwörungstheorien durch Chatgruppen frisst und droht, die Mitte der Gesellschaft zu vergiften: vermeintliche Kritik am Staat Israel, die aber nur als Deckmantel für Antisemitismus steht. Dazu zählen auch kulturelle Vorkommnisse wie dieses Jahr auf der Documenta.

Wir haben Verantwortung, zu erinnern. Die Verpflichtung besteht in der Aufklärung, aber auch in der Prävention. Kein Mensch wird als Antisemit geboren. Menschen werden dazu. Wie können wir verhindern, dass Menschen zu Antisemiten werden? Das ist eine Frage von Bildung und Aufklärung. Henry Brandt hat gesagt: von gemeinsamer Arbeit und Gesprächen. Ein versöhnender Ton. Was für eine Stärke dieses Mannes!

Gerade weil Rabbiner Henry Brandt und immer mehr Zeitzeugen nicht mehr unter uns sind – und sie fehlen –, liegt es an uns, die Erinnerung zu bewahren: nicht als Ritual, sondern als aufrichtige Mahnung. Es gibt keinen Zeitablauf für die Notwendigkeit des Gedenkens. Die Erinnerung an die Opfer endet nie. Erinnern bleibt in diesem Land jedem stets zumutbar. Für ein „Nie wieder!“ einzutreten, ist eine unerlässliche Pflicht: mit dem Aufruf am 9. November, aber auch mit jedem Tag unseres politischen Handelns.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Ullrich. – Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Marlene Schönberger, Bündnis 90/Die Grünen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7547734
Wahlperiode 20
Sitzung 65
Tagesordnungspunkt Vereinbarte Debatte - Bekämpfung von Antisemitismus
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