Rolf MützenichSPD - Bundeskanzleramt und Unabhängiger Kontrollrat
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir leben in extremen und anstrengenden Zeiten. Der von Präsident Putin wissentlich und willentlich entfachte Krieg ist die schlimmste Form extremer Politik. Aber auch das Abgleiten ehemals stabiler Demokratien oder die Leugnung des Klimawandels sind Folgen und Zeugen von Radikalität und Ignoranz.
(Stephan Brandner [AfD]: Deutschland war mal eine Vorzeigedemokratie! Sie haben das ruiniert!)
In diesem Umfeld wächst die Versuchung, extreme politische Debatten zu führen, leider auch bei uns. Ich denke, wir Demokratinnen und Demokraten müssen uns diesem Extremismus entgegenstellen.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der FDP und der LINKEN sowie des Abg. Friedrich Merz [CDU/CSU])
Weil die Wirklichkeit komplex ist, müssen wir den Vereinfachern mit unserer Fähigkeit zur Vernunft und zum Kompromiss begegnen.
(Stephan Brandner [AfD]: Da sind Sie in der falschen Partei!)
Rigorismus ist Gift für den notwendigen Zusammenhalt und für eine kluge Politik. Besonnenheit, Pluralismus und ein Höchstmaß an Freiheit und Gerechtigkeit
(Stephan Brandner [AfD]: Das ist die AfD!)
sind die Voraussetzungen für den inneren und äußeren Frieden.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Deutschland hat hierbei eine wichtige Rolle inne. Die Koalition wird von sehr unterschiedlichen Parteien getragen. Diese einzigartige Chance müssen wir – davon bin ich überzeugt – nutzen. In einem Bündnis gleichberechtigter Parteien wollen wir unsere gemeinsamen Anliegen wie Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit bündeln und einlösen, und das mit Augenmaß und einem Sinn für neue Realitäten. Das ist der Auftrag für eine Koalition des Fortschritts, und wir sind stolz, mit Olaf Scholz an der Spitze daran mitwirken zu dürfen, meine Damen und Herren.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)
Die Gesetzgebung der letzten Monate und der neue Haushalt – darum geht es heute – ergänzen sich. Das ist eine kluge Politik. Der Bundesfinanzminister hat zum Abschluss der Haushaltsberatungen bei der Bereinigungssitzung die Haushälterinnen und Haushälter, wenn ich mich recht entsinne, als „interessantes Völkchen“ bezeichnet.
(Otto Fricke [FDP]: Vorsicht! – Heiterkeit bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)
Ich nehme an, daraus klingt Sympathie, Unterstützung und Respekt. Lassen Sie mich sagen: Es sind selbstbewusste und kompetente Abgeordnete,
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)
ausgestattet mit dem Vertrauen des Souveräns, die noch einmal 31 Milliarden Euro bewegt haben. Eben weil wir uns auf nachhaltige öffentliche Güter wie Arbeit, Wohnen, Bildung und Mobilität konzentrieren, hat es sich gelohnt, diesen Haushalt zu verbessern.
Ich bin der festen Überzeugung, dass dieser Haushalt uns gut durch das neue Jahr tragen wird. Gleichzeitig schafft dieser Haushalt die Voraussetzung für den Umbau der Wirtschaft, für eine klimaneutrale Produktion, für neue und gut bezahlte Arbeitsplätze und auch für die Entwicklung von Ideen. Bei diesen Herausforderungen, meine Damen und Herren, müssen wir vorankommen. Im Vergleich zu den vielen Jahrhunderten vor uns, wo der Strukturwandel über Gesellschaften immer hereingebrochen ist, haben wir diesmal die einzigartige Chance, diesem Strukturwandel vorab den Weg zu bereiten. Das ist die Konsequenz aus den Entwicklungen und der Auftrag an diese Koalition: Wir können ein modernes Deutschland schaffen, das sich in den nächsten Jahrzehnten in einem neuen internationalen Umfeld behaupten kann und auch muss.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Diese Agenda, meine Damen und Herren, ist natürlich überlagert von einem brutalen Krieg insbesondere gegen die Zivilbevölkerung, der bei uns eine Energiekrise hervorgerufen hat und damit verbunden auch einen wachsenden Kaufkraftverlust. Aber es ist unbestritten, dass wir die Ukraine, die so brutal und auf Lügen aufgebaut angegriffen worden ist, unterstützen müssen, und zwar, ja, mit Waffen, gleichzeitig aber auch durch humanitäre Hilfe und finanzielle Unterstützung, die schon vor dem Krieg vonseiten Deutschlands sehr groß geworden ist. Das ist die eine Seite der Medaille.
Die andere Seite ist, der Entgrenzung des Krieges durch eine kluge Politik vorzubeugen, und das muss man sich jeden Tag neu erarbeiten. Das tut diese Bundesregierung, das tut der Bundeskanzler. Deswegen bedauere ich, dass vor dem Hintergrund aktueller Ereignisse des Raketeneinschlags in Polen manche übereilt, manche, wie ich finde, zu gefährlich und zu risikovoll reagiert haben. Um dieser Entgrenzung des Krieges vorzubeugen, gehört auf der einen Seite, die Ukraine zu unterstützen, aber auf der anderen Seite auch eine kluge Diplomatie, eine Reisediplomatie, wie sie der Bundeskanzler unternommen hat. Es geht insbesondere darum, die Länder mitzunehmen, die unmittelbar nach Ausbruch dieses Krieges nicht auf der Seite der 141 Staaten gestanden haben, die eine entsprechende Resolution verabschiedet haben, sondern die sich der Stimme enthalten haben, aber trotzdem gegen den Krieg sind. Deswegen war es richtig, diese Länder zum G‑7-Gipfel einzuladen und in diese Länder zu reisen. Man muss auch mit jenen sprechen, die nicht von Anfang an mit einem einer Meinung sind. Deswegen ist Diplomatie kein Relikt vergangener Tage, sondern aktueller denn je.
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Andreas Audretsch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Wir brauchen auf der einen Seite eine kluge Außenpolitik, auf der anderen Seite eine kluge Sozialpolitik, die sich den inneren Herausforderungen stellt. Ich bin froh, dass meine Fraktion in Dresden drei notwendige Bedingungen formuliert hat, die sozusagen den Pfad vorzeichnen: auf der einen Seite unmittelbare, soziale, direkte Hilfen, auf der anderen Seite eine Grundsicherung für bezahlbare Energie, Sicherheit und Zuversicht für die Verbraucher. Aber es hängt noch mehr daran: Wir wollen mit dieser Grundsicherung den industriellen Kern in Deutschland erhalten. Wir wollen uns wappnen, was die USA zurzeit versucht, und für günstige Energie sorgen. Gleichzeitig sage ich: Voraussetzung für die Grundsicherung im Bereich Energie ist, dass die Standortsicherung in Deutschland garantiert wird.
(Beifall bei der SPD)
Letztlich geht es auch um Beschäftigungssicherung. Wir wollen die Arbeitsplätze für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland halten.
Es war deswegen gut, dass die Bundesregierung zusammen mit den sie tragenden Fraktionen die Konzertierte Aktion auf den Weg gebracht hat, dass sie anknüpfend an die guten Erfahrungen vergangener Jahrzehnte hier Unterstützung gegeben hat, dass sie die Tarifvertragsparteien an ihre Pflichten erinnert hat, gute Arbeit mit gutem Einkommen zu unterlegen, dass sie auf der anderen Seite aber auch Abgaben- und Steuerfreiheit anbieten können. Alle verantwortlichen Tarifvertragsparteien haben in den vergangenen Wochen auf dieses Mittel zurückgegriffen. Das schafft Solidarität, aber auch Zuversicht für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Die Konzertierte Aktion war eine wichtige Bedingung und gerade für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, die so eng mit den Gewerkschaften zusammenarbeiten, ein gutes Signal.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Christian Dürr [FDP])
Die zweite Bedingung, die wir auf unserer Klausur im September in Dresden formuliert haben, ist: Die Menschen dürfen nicht von Almosen abhängig sein. Sie brauchen soziale Rechte in dieser Gesellschaft. Da geht es um die Erhöhung des Mindestlohns, aber auch um die Ausweitung des Kreises der Wohngeldempfänger, was wir in den letzten Wochen gemeinsam geschafft haben. Aber noch wichtiger ist die Erhöhung des Kindergeldes auf 250 Euro. Jedes Kind ist gleich viel wert, meine Damen und Herren.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP – Stephan Brandner [AfD]: Was ist der Wert des Kindes?)
Das ist die Basis für eine Kindergrundsicherung, und ich bitte jetzt die Bundesregierung, die Kindergrundsicherung anzupacken und sie noch in dieser Legislaturperiode zu verwirklichen. Durch die Erhöhung des Kindergeldes haben wir die Basis dafür gelegt.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Zum anderen geht es um das Bürgergeld. Da haben wir ein gutes Ergebnis erzielt. Ich lasse einfach mal zur Seite, wer sich wo durchgesetzt hat. In ein paar Wochen interessiert das die Menschen überhaupt nicht mehr. Wichtig ist, Qualifizierung und Weiterbildung, den Wert der Arbeit über diese Grundsicherung, dieses Bürgergeld zu erhalten. Aber es ist auch ein Basisschutz für die Demokratie in einem sozialen Bundesstaat, das, was uns die Väter und Mütter des Grundgesetzes auferlegt haben. Dafür ist das Bürgergeld eine Rückversicherung.
Die dritte Bedingung ist, systemische Eingriffe dort vorzunehmen, wo der Markt, der alles richtet, eben aufgehalten wird, was korrigiert werden muss. Wir verlangen in den nächsten Tagen, wenn die Vorlagen da sind, uns genau anzuschauen, ob das auch erreicht wird.
Meine Damen und Herren, ich habe von extremen und anstrengenden Zeiten gesprochen. Die Zeiten sind nicht mehr so wie in den vergangenen Jahrzehnten; wir müssen uns das endlich vor Augen führen. Leider repräsentieren Diktaturen, autoritäre Regierungen mittlerweile 70 Prozent der Weltbevölkerung. Die Zahl der liberalen Demokratien ist auf dem niedrigsten Stand angelangt.
(Stephan Brandner [AfD]: Daran arbeiten Sie ja mit, Herr Mützenich! Das ist der Trend!)
Deswegen war es für mich bitter, zu erfahren, dass in der Europäischen Union wie zum Beispiel im Gründungsland Italien mittlerweile Parteien an der Spitze sind, die diesem Extremismus das Feld bereiten. Aber ich sage gleichzeitig: Ohne Hoffnung können wir die Demokratie nicht verteidigen.
(Stephan Brandner [AfD]: Das können Sie sowieso nicht! Sie haben sie zugrunde gerichtet!)
Deswegen sind der Wahlausgang in Brasilien, die Midterms in den USA, die deutliche Ernüchterung über den Brexit in Großbritannien Lichtblicke. Ja, die Zeiten sind anstrengend. Wir müssen uns dem mit Ernsthaftigkeit und Sachlichkeit entgegenstellen.
(Zuruf der Abg. Beatrix von Storch [AfD])
Aber ich bin überzeugt, dass Demokratien die Probleme am besten lösen können. Das können wir gemeinsam beweisen, meine Damen und Herren.
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)
Das Wort hat der Abgeordnete Tino Chrupalla für die AfD-Fraktion.
(Beifall bei der AfD sowie der Abg. Robert Farle [fraktionslos] und Matthias Helferich [fraktionslos])
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7548376 |
Wahlperiode | 20 |
Sitzung | 69 |
Tagesordnungspunkt | Bundeskanzleramt und Unabhängiger Kontrollrat |