23.11.2022 | Deutscher Bundestag / 20. WP / Sitzung 69 / Einzelplan 23

Bettina HagedornSPD - Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung

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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Damit ich meine Rede jetzt nicht abrupt mit dem allgemeinen Haushalt beginne, will ich bei dir, lieber Carsten Körber, nämlich bei unserer gemeinsamen Reise nach Moldau, in die Ukraine und nach Polen, anschließen. Ich möchte mich vor allen Dingen bei unserer Delegationsleiterin Claudia Raffelhüschen bedanken, mit der zusammen wir – insgesamt fünf Abgeordnete von fünf demokratischen Parteien; Victor Perli war ja auch dabei – dorthin gefahren sind.

Es war ein gutes Zeichen. Wir waren der erste Ausschuss des Deutschen Bundestages, der als solcher in der Ukraine war. Das ist von den Bürgermeistern positiv aufgenommen worden. Es war ja nicht nur der Bürgermeister von Lemberg, der uns in seinem Rathaus empfangen hat, sondern es waren auch Bürgermeister von Städten in der Ostukraine, aus den russisch besetzten Gebieten dabei, die im Moment nicht in ihren Rathäusern arbeiten können und das von Lemberg aus tun. Es hat uns zutiefst beeindruckt, mit welchem Mut, mit welcher Entschlossenheit, mit welchem Optimismus und welcher Zuversicht sie trotz der widrigen Umstände, die dort herrschen, in diesen Winter gehen. Wir haben aber auch sehr gut zugehört, was sie uns zu sagen hatten. Das Ergebnis waren 22 Millionen Euro in der Bereinigungssitzung für 1 000 Dieselgeneratoren, weil die Energieversorgung angesichts der Anschläge auf die Umspannwerke natürlich die größte Sorge ist, und zwar nicht nur in Lemberg, sondern in allen Kommunen. Die 1 000 Dieselgeneratoren werden sicherlich nicht alle in Lemberg landen,

(Stefan Keuter [AfD]: Die Generatoren müssen nach Deutschland!)

sondern solidarisch dorthin verteilt, wo sie am meisten benötigt werden. Es ist aber nicht nur entscheidend, ob es in diesem Winter Wärme und Strom geben wird, sondern auch, ob es fließend Wasser geben wird.

Wir haben in Lemberg auch mit vielen Flüchtlingen gesprochen. Besonders beeindruckt – das will ich auch noch kurz erzählen – hat uns der Besuch von über 200 Frauen und Kindern, die in der VIP-Lounge des dortigen Fußballstadions von Schachtar Donezk untergebracht sind. Das ist deren Fußballstadion, nachdem der Verein aus Donezk vertrieben worden ist. Dieser Fußballverein und sein Fanklub betreuen dort seit vielen Monaten alleine, ohne Unterstützung von außen, über 200 Frauen und Kinder. UNICEF betreut die Kinder im unteren Teil des Fußballstadions.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Wenn man sich das angeschaut hat, war man beeindruckt, wie die über 200 Frauen und Kinder dort leben, die alle aus den russisch besetzten Gebieten geflohen sind, die schwerste Traumata erlitten haben und die uns in unseren Gesprächen trotzdem mit tiefster Inbrunst und Überzeugung gesagt haben, dass sie nicht fliehen, sondern dableiben wollen. Sie können sich dort mit den anderen über ihre traumatischen Erlebnisse austauschen. Wenn man keine psychologische Betreuung hat – und die haben sie weder dort noch sonst wo, denn so viele Psychiater, wie all die traumatisierten Menschen bräuchten, gibt es überhaupt nicht –, dann ist das Reden mit Menschen, die das Gleiche erlebt und erlitten haben wie man selber, das Wichtigste. Die Kinder – davon konnten wir uns überzeugen – waren genauso fröhlich wie die in einem Kindergarten in Deutschland. Die Kinder und Jugendlichen wurden dort schulisch betreut. Die IT‑Versorgung ist dort teilweise besser und die Menschen sind professioneller als bei uns. Es hat tiefsten Eindruck bei uns hinterlassen, was ein Fußballverein auf eigene Initiative zu leisten imstande ist und mit welcher Dankbarkeit die Frauen und die Kinder darauf reagieren.

Ich will es hier kurz erwähnen: Es gab keine Betten. Da lag Matratze an Matratze auf dem Fußboden, und dazwischen stand immer ein Stuhl – ein Stuhl! – für die Garderobe und die Habseligkeiten desjenigen, der auf der Matratze nächtigt. So sind sie dort teilweise schon seit Monaten untergebracht. Obwohl sie, wenn man mit ihnen über die Telefonate mit ihren Männern an der Front sprach, natürlich in Tränen ausbrachen, sind uns in diesen Gesprächen eine unglaubliche Stärke, eine Zuversicht und der feste Wille entgegengekommen, dort zu bleiben, auf die Männer zu warten und sich auch um die in den besetzten russischen Gebieten verbliebenen älteren Angehörigen zu kümmern und mit denen täglich zu sprechen.

Mit diesen Eindrücken sind wir von der Reise nach Hause gekommen, haben zuvor eine unglaubliche Hilfsbereitschaft in Moldau erlebt. Carsten Körber, du hast über die wirtschaftliche Situation in Moldau berichtet. Wenn ich höre, wie Sie, Herr Espendiller,

(Dr. Michael Espendiller [AfD]: Kontrolle haben wir gefordert!)

vorhin beim Einzelplan 05 für die AfD über Moldau gesprochen haben, dann muss ich sagen, es wäre vielleicht doch für Ihren Horizont besser gewesen, mitzukommen. Sie waren ja auch für diesen Bereich Berichterstatter. Da hätten Sie vielleicht noch was lernen können. Aber sei’s drum! Wir jedenfalls haben die Erfahrung mitgenommen, dass die Bereitschaft der Leute in Moldau, auch der Leute in Südpolen unglaublich groß ist, mit den Flüchtlingen alles zu teilen und sie mit offenen Herzen aufzunehmen.

(Stefan Keuter [AfD]: Das ist ja schön! Aber wir haben Kontrolle eingefordert!)

Das hat uns schon auch demütig gemacht.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)

Zusammenhalt in der Zeitenwende – das ist so ein bisschen die Überschrift über dieser zweiten und dritten Lesung unseres Bundeshaushaltes. Der Begriff „Zeitenwende“ wurde oft in den Mund genommen, wenn es zum Beispiel um das Militär ging; aber er muss auf jeden Fall für jeden Haushalt dekliniert werden, so auch ganz bestimmt für diesen Haushalt wie für den des Auswärtigen Amtes.

Weil der Bezug zur ersten Lesung schon hergestellt worden ist: Ich habe ja schon in der ersten Lesung versucht, zu erläutern – zum Beispiel auch Herrn Ziemiak –, dass man nicht Äpfel mit Birnen vergleichen darf, dass man immer nur einen fertigen Haushalt mit einem fertigen Haushalt, ein Ist mit einem Ist vergleichen darf. Einen Regierungsentwurf darf man immer nur mit einem Regierungsentwurf vergleichen. Und wenn das so ist, dann ist es natürlich nicht überraschend – denn wir haben es hier im September angekündigt –, dass dieser Haushalt jetzt um 1 Milliarde Euro gewachsen ist.

Ich sage Ihnen: Das ist nicht das Ende der Fahnenstange.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Denn es sind im Einzelplan 60 ja 5 Milliarden Euro für Krisenvorsorge eingestellt gewesen, und wir haben davon jetzt zu Recht 2 Milliarden Euro in der Bereinigungssitzung aufgelöst: 1 Milliarde Euro für humanitäre Hilfe beim Auswärtigen Amt, 1 Milliarde Euro im Bereich des Ministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Aber es ist eine Vorsorge, und wir sehen, dass unsere Regierung im Moment auf sehr vielen internationalen Konferenzen leider Flagge zeigen muss, was die internationale Rolle Deutschlands abseits des Militärischen ist und wie wir unserer Rolle dort gerecht werden wollen. Und das werden wir.

Während der G‑7-Präsidentschaft – Olaf Scholz hat darauf heute hingewiesen – haben wir sehr wohl die Initiative übernommen und unter unseren G-7-Partnern dafür geworben, gemeinsam mehr zu tun. Ich will daran erinnern, dass unsere Ministerin Svenja Schulze schon im Mai im Rahmen der G‑7-Präsidentschaft die Initiative für ein Bündnis für globale Ernährungssicherheit ergriffen hat, und all dem folgen Taten. Wir haben die COP gerade hinter uns gebracht. Sie hätte erfolgreicher sein dürfen, wenn es nach uns allen gegangen wäre – aber step by step! Auch in den nächsten zwölf Monaten müssen und wollen wir überall Flagge zeigen und bei der Bewältigung der großen Krisen zum Wohle der Menschen überall vorangehen.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Wir haben am 10. November nicht nur 1 Milliarde Euro für den Haushalt 2023 on top beschlossen und sind jetzt bei über 12 Milliarden Euro für den Gesamtetat. Wir haben am gleichen Tag – das wird manchmal vergessen – auch die Bereitstellung von fast 1 Milliarde Euro beschlossen, die nämlich unser Koalitionsausschuss Anfang September vereinbart hatte, um die Ernährungssicherheit weltweit zu gewährleisten. Das ist noch für 2022 beschlossen worden. Wir haben am Tag der Bereinigungssitzung 495 Millionen Euro für das BMZ beschlossen. Davon gehen 275 Millionen Euro in die Sonderinitiative, die bisher „Eine Welt ohne Hunger“ hieß und jetzt „Transformation der Agrar- und Ernährungssysteme“ heißt. 275 Millionen Euro plus! Wir stellen zusätzlich 170 Millionen Euro für die Krisenbewältigung, den Wiederaufbau und die Infrastruktur und 50 Millionen Euro für das World Food Programme bereit. Das addiert sich dann noch mit Summen, die an anderer Stelle parallel beschlossen wurden. Auch wenn wir das für 2022 beschlossen haben und Sie das im Haushalt 2023 nicht finden werden, so ist doch klar: Das kann von der Regierung erst nach dem Beschluss des Parlaments über den Haushalt ausgegeben werden und entfaltet dann natürlich 2023 seine gute Wirkung weltweit und unterstützt diesen Etat insofern im nächsten Jahr. Übrigens – das nur nachrichtlich –: 495 Millionen Euro gehen an das Auswärtige Amt für humanitäre Hilfe im Ausland.

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Ich möchte meine Rede damit schließen, dass ich an Willy Brandt erinnere, der vor 45 Jahren in Genf gesagt hat: „ Die reichen Nationen werden nicht reich bleiben, wenn die Armenhäuser der Menschheit wachsen.“ Was für ein weiser Spruch vor so langer Zeit!

In diesem Sinne wünsche ich uns allen gute Beratungen. Stimmen Sie bitte zu. Das können Sie von Herzen gerne tun.

Wohlauf!

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

Für die AfD-Fraktion hat das Wort Dr. Michael Espendiller.

(Beifall bei der AfD)

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Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7548443
Wahlperiode 20
Sitzung 69
Tagesordnungspunkt Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
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