Dagmar SchmidtSPD - Aktuelle Stunde - Proteste in China und deutsche China-Politik
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich wünschte, es gäbe heute einen schöneren Grund, um über China zu reden. Aber es ist gut, dass wir das tun, um unsere Solidarität mit den Protestierenden und unser Mitgefühl mit den vielen Menschen, die unter den radikalen Maßnahmen leiden, zum Ausdruck zu bringen.
Am vergangenen Wochenende haben so viele Menschen in China protestiert wie seit 1989 nicht mehr. Sie protestieren gegen eine Coronapolitik, die keine Exit-Strategie hat, die die Menschen einsperrt, überwacht, drangsaliert und immer öfter zu Elend und Tod führt, weil die Grundversorgung mit Nahrung, weil medizinische Hilfe und persönlicher Kontakt fehlen, weil Arbeit und Einkommen nicht mehr gesichert sind, weil Menschen in ihren Fabriken, Wohnungen oder Universitäten festsitzen, weil Schulen geschlossen, Kinder von ihren Eltern getrennt werden und weil der versperrte Weg zum Krankenhaus oder die versperrte Zufahrt für die Feuerwehr wie in Ürümqi Leben kostet. Wir fühlen mit ihnen und stehen an ihrer Seite.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP und der Abg. Tilman Kuban [CDU/CSU] und Matthias W. Birkwald [DIE LINKE])
Schon früh zu Beginn der Coronapandemie wurde die Systemfrage gestellt und diskutiert: Kann eine Demokratie oder kann eine Autokratie besser mit einer solchen Pandemie umgehen? In China wurden, nachdem das Virus nicht mehr zu leugnen war, rigorose Maßnahmen ergriffen. Selbst die WHO attestierte seinerzeit, dass diese Eindämmungsmaßnahmen in China effektiv seien. Im Land erzählte man, wie erfolgreich die eigene Strategie im Vergleich zu denen im Westen sei, wo man im Chaos versinke. Gleichzeitig verschärfte die Regierung Kontrollen und Überwachung.
An der Überlegenheitserzählung der Null-Covid-Strategie wurde auch noch festgehalten, als man feststellen musste, dass das Virus mutiert und die ansteckendere Omikron-Variante neue Herausforderungen mit sich bringt, als man feststellen musste, dass die eigenen Impfstoffe schlechter als die mRNA-Impfstoffe vor schweren Krankheitsverläufen schützen
(Zuruf von der AfD)
und dass die Priorisierung der Impfkampagne, die Junge statt Ältere adressierte, falsch war und die Impflücke zu groß ist, um das Gesundheitssystem vor Überlastung zu schützen. Man hat den Ausstieg aus der Null-Covid-Strategie verpasst, weil sie eben längst keine Strategie mehr war, sondern ein Dogma.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Deutschland hat eines der besten Gesundheitssysteme der Welt;
(Enrico Komning [AfD]: Gehabt!)
dennoch haben auch wir erlebt, wie schwierig die pandemische Situation zu beherrschen ist, dass auch wir nicht immer wissen konnten, was genau geschehen wird und was der beste Umgang mit der Pandemie ist. Aber wir haben das Privileg, in einer Demokratie zu leben. Alle können offen ihre Meinung sagen, gegen das Impfen protestieren und auf die Straße gehen. All das hält eine funktionierende Demokratie aus.
(Enrico Komning [AfD]: Aber nur mit Mundschutz!)
Gleichzeitig diskutieren wir Probleme wissensorientiert und lösen sie. Wir diskutieren, wägen ab, korrigieren Fehler und passen unsere Politik an, wenn es neue Erkenntnisse oder sich verändernde Lagen gibt, seien es Mutationen, Fortschritte beim Impfen oder neue Medikamente.
Wir waren und sind weiß Gott nicht immer einer Meinung; aber Wissenschaft und Politik haben argumentiert, diskutiert, Studien gewälzt, gute Kompromisse gefunden und damit offen und nachvollziehbar gehandelt. Wir haben zusammengehalten. Darauf können wir stolz sein.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)
Noch ist die Pandemie nicht vorbei. Alle Regierungen der Welt stehen nach wie vor vor schwierigen Entscheidungen. Aber während wir uns hierzulande auf den Weg in die Normalität machen, steht China noch vor grundsätzlichen Entscheidungen. China steckt in einem Dilemma. Drei Jahre Null-Covid-Strategie haben eine relativ geringe Zahl von Todesfällen und Infektionen gebracht, aber das zu hohen Kosten. Ein Weg hin zur Normalität ist noch nicht in Sicht.
China selbst hat einen 20-Punkte-Plan vorgestellt, mit dem die Coronapolitik angepasst werden soll. Vieles darin, wie die neue Impfstrategie, ist richtig. Es ist aber im Kern eine Abkehr von der Null-Covid-Strategie und die Umsetzung daher noch offen und fragwürdig.
Viele in China hatten aber gehofft, dass sich nach dem Parteitag etwas ändert. Weiterhin verfolgen die Behörden jedoch ihre rigorosen Maßnahmen; ein Ende ist immer noch nicht in Sicht. Das führt bei einem ohnehin pandemiemüden Volk zu zusätzlicher Verunsicherung und Wut. Die Überlegenheitserzählung der chinesischen Null-Covid-Strategie funktioniert nicht mehr.
Wir können ermessen, wie unerträglich die Situation für viele Menschen in China sein muss – so unerträglich, dass sie trotz der Gefahren protestieren und damit ihre Freiheit, ihre Gesundheit und ihr Leben riskieren. Diese Ereignisse in China dürfen uns nicht unberührt lassen. Wir hoffen auf kluge Entscheidungen, auf einen friedlichen Umgang mit dem friedlichen Protest und einen Weg zu mehr Freiheit für die Menschen in China.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)
Das Wort hat der Abgeordnete Jürgen Braun für die AfD-Fraktion.
(Beifall bei der AfD)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7548781 |
Wahlperiode | 20 |
Sitzung | 72 |
Tagesordnungspunkt | Aktuelle Stunde - Proteste in China und deutsche China-Politik |