Alexander Graf LambsdorffFDP - Aktuelle Stunde - Proteste in China und deutsche China-Politik
Hier war so ein leichter Schwefelduft. Ich musste den vertreiben. – Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir alle sehen die Bilder aus China: Demonstranten mit weißen Blättern. Wir sehen die Ausbrüche aus den abgeriegelten Wohnvierteln. Wir hören – das ist wirklich eine neue Qualität – auch die politischen Forderungen der Demonstrantinnen und Demonstranten.
Nun war es so, dass in der „China Daily“, dem Blatt der Kommunistischen Partei, kürzlich zu lesen war – ich zitiere –: Die Unannehmlichkeiten der Bevölkerung im Kampf gegen das Virus sollten im Kontext eines größeren Bildes betrachtet werden.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich kurz dieses „größere Bild“ skizzieren; lassen Sie uns gemeinsam betrachten, wovon „China Daily“ spricht: Nach dem Schulterschluss mit Xi Jinping hat Wladimir Putin die Ukraine angegriffen. Chinas Drohgebärden gegenüber Taiwan waren nie so offensiv wie in diesem Jahr. Im Iran warfen Tausende von Frauen den Hidschab ab; seitdem erschüttern Demonstrationen das gesamte Land.
Wo stehen wir also heute, im November 2022, im Kontext eines größeren Bildes? Putin sieht sich schweren innenpolitischen Verwerfungen, einer massiven internationalen Isolation und einem militärisch-strategischen Fehlschlag gegenüber. Das Mullah-Regime im Iran bekämpft den Aufstand einer breiten iranischen Öffentlichkeit, der sich an der Brutalität des Regimes entzündet hat. Und Xi Jinping erntet die Früchte seiner Coronapolitik. Das Volk hat nach Jahren einer exzessiven, repressiven Zero-Covid-Strategie zurückgeschlagen und verbindet dies mit politischen Forderungen. Wer wollte ihm das verdenken?
(Beifall bei Abgeordneten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Frank Schwabe [SPD])
Totale Lockdowns über mehr als zwei Monate, eingesperrte Menschen, ohne genug zu essen, kranke Kinder, die von ihren Eltern getrennt wurden, ganze Wohnviertel, die abgesperrt wurden, staatliche Desinfektionskampagnen in Abertausenden von Privatwohnungen:
(Dr. Malte Kaufmann [AfD]: Sprechen Sie von Deutschland oder China? – Jürgen Braun [AfD]: Worüber sprechen Sie, Herr Lambsdorff? Wo waren Sie in den letzten Jahren?)
Zahl und Intensität der staatlichen Willküreingriffe in China sind genauso erschreckend wie die hartnäckige Weigerung der Machthaber in Peking, endlich westliche Impfstoffe ins Land zu lassen. Diese aber braucht es, wenn das Land über die nächsten Monate zu einem Anschein von Normalität zurückkehren will. Stattdessen beharrt die Führung der Kommunistischen Partei auf Sinovac, einem minderwertigen Impfstoff, für den die Impfquote vollkommen unerheblich ist.
(Lachen bei Abgeordneten der AfD – Dr. Rainer Kraft [AfD]: Das ist ja wie bei uns! – Jürgen Braun [AfD]: Minderwertige Impfstoffe, ja? BioNTech ist hochwertig, ja?)
Meine Damen und Herren, noch einmal der Kontext eines größeren Bildes: Am Ende dieses Jahres zeigt sich überdeutlich, dass nationalistische, islamistische und kommunistische Diktaturen scheitern. Sie scheitern an ihrem Anspruch, ihren Bürgerinnen und Bürgern ein besseres Leben in Freiheit, Wohlstand und Würde zu garantieren als der von ihnen so oft geschmähte und angeblich verachtete Westen. Aber am Verhalten der Menschen in exakt diesen Ländern, in diesen Diktaturen sieht man, wie verlogen die Politik der Machthaber in Wahrheit ist. Die Demonstranten wollen ihren Landsleuten nicht etwa eine westliche Lebensweise aufzwingen; das hat mit West und Ost, Nord und Süd überhaupt nichts zu tun. Nein, was wir im Kontext eines größeren Bildes sehen, ist die ureigene Sehnsucht des Menschen nach einem Leben in Freiheit und Würde, und das ist eine Sehnsucht, die auch die Menschen in China haben: frei reisen, frei glauben, frei lieben.
Paradoxerweise sind die universellen Menschenrechte ja gerade deswegen so erfolgreich, so wirkmächtig,
(Zuruf des Abg. Jürgen Braun [AfD])
weil sie in höchstem Maße individuell sind. Dazu zählt auch: frei publizieren, frei demonstrieren und frei wählen. In der Geschichte der Menschheit gibt es kein Gesellschaftsmodell, das die Unverletzbarkeit der menschlichen Würde in so hohem Maß gewährleistet wie die freiheitliche Demokratie.
Der vielleicht wichtigste Unterschied zwischen den liberalen und den illiberalen Gesellschaften besteht darin, dass erstere Kritik zulassen und letztere sie mit allen Mitteln zu unterdrücken suchen. Das Jahr 2022 hat uns diesen Unterschied auf mannigfaltige Weise gezeigt – eben zuletzt in China. Viele, die in Russland, im Iran oder auch in China auf Missstände hinweisen, riskieren damit lange Haftstrafen, Umerziehungslager oder unterschreiben sogar ihr Todesurteil.
Ihr Mut, meine Damen und Herren, ist uns Beispiel. Wir verneigen uns vor ihnen. Wir verneigen uns vor den Menschen, die sich für Freiheit, Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaat im Iran, in Russland und jetzt auch im China von Xi Jinping einsetzen.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der FDP, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Das Wort hat die Kollegin Sevim Dağdelen für die Fraktion Die Linke.
(Beifall bei der LINKEN)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7548783 |
Wahlperiode | 20 |
Sitzung | 72 |
Tagesordnungspunkt | Aktuelle Stunde - Proteste in China und deutsche China-Politik |