01.12.2022 | Deutscher Bundestag / 20. WP / Sitzung 73 / Zusatzpunkt 4

Mahmut Özdemir - Aktuelle Stunde - Pläne der Bundesregierung zur schnelleren Einbürgerung

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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, es ist gut, zur Halbzeit nach dieser Rede befördern zu wollen, in der anstehenden Diskussion um die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts auf einer Sach- und Fachebene zu bleiben und uns auf Basis der Fakten weiter zu unterhalten.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Aber eine Mahnung kann ich mir nicht ersparen: Im Zusammenhang mit dem Staatsangehörigkeitsrecht, also dem, was unser Staatsvolk definiert, Wertungen wie „verramschen“ und ähnliche Bilder zu verwenden, halte ich für schändlich.

(Beatrix von Storch [AfD]: Sie zu verramschen, ist schändlich!)

Es kommt aus der gleichen Schublade wie „Sozialtourismus“, und diese Schublade sollte man zu lassen.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Die Fakten: Wir verlangen weiterhin ein qualifiziertes Aufenthaltsrecht. Es sind ein Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes und eine Loyalitätserklärung abzugeben. Identität und bestehende Staatsangehörigkeit müssen geklärt sein. Der Lebensunterhalt muss gesichert sein. Mündliche und schriftliche Deutschkenntnisse müssen durch eine Sprachprüfung belegt sein. Nur hier machen wir eine gezielte Ausnahme, zu der ich gleich noch mal kommen werde. Es müssen Kenntnisse der deutschen Rechts- und Gesellschaftsordnung nachgewiesen sein, und auch künftig darf eine Einbürgerung bei Bestehen einer Mehrehe nicht vollzogen werden und auch dann nicht, wenn die Gleichberechtigung von Mann und Frau nicht akzeptiert wird. Wir ersetzen damit den unklaren Begriff der „Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse“ durch klare Kriterien.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

Deutschland ist längst ein Einwanderungsland geworden. Ende 2021 – da helfe ich gerne mit Fakten – lebten rund 72,4 Millionen Menschen mit deutscher und rund 10,7 Millionen mit ausländischer Staatsangehörigkeit in Deutschland, von denen sich rund 5,7 Millionen Menschen bereits seit mindestens zehn Jahren in Deutschland aufhielten. Dies hat zur Folge, dass ein zahlenmäßig bedeutender Bevölkerungsteil, der auf Dauer in Deutschland lebt und hier seine Heimat gefunden hat, von Rechten und Pflichten eines Bürgers gegenüber dem Staat ausgeschlossen bleibt. Für den Zusammenhalt in Deutschland ist aber entscheidend, dass auch diejenigen, die längst Teil unserer Gesellschaft geworden sind, mitgestalten und mitentscheiden dürfen. Dazu gehört vor allen Dingen die politische Teilhabe durch das aktive und passive Wahlrecht; Rechte, die mir persönlich, trotz meiner Geburt in Deutschland, ohne eine Einbürgerung verwehrt geblieben wären.

(Lamya Kaddor [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie so vielen!)

Fakt ist, dass Deutschland bei den Einbürgerungen im Vergleich zu anderen europäischen Staaten nicht gut dasteht. Die durchschnittliche Einbürgerungsrate liegt nach der letzten Erhebung von Eurostat deutlich unter dem Durchschnitt der Europäischen Union.

Unser Ziel ist es, die Missstände zu beseitigen, die sich teilweise schon über Jahrzehnte aufgestaut haben, teilweise auch unter einer sehr fragwürdigen BMI-Führung. Wir können nicht an Rahmenbedingungen für die Einbürgerung festhalten, die heute in der Mehrheit gesellschaftlich und politisch keine Billigung mehr finden. Das hat die Bundestagswahl sehr deutlich gezeigt.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP – Dr. Götz Frömming [AfD]: Das sieht die Gesellschaft anders! – Dr. Stefan Heck [CDU/CSU]: Die Mehrheit ist gegen den Doppelpass!)

– Das ist das Ergebnis der Bundestagswahl. Sie müssen gesellschaftliche und politische Realitäten irgendwann auch mal akzeptieren.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich sehe den Phantomschmerz, aber da kann ich Ihnen auch nicht mehr helfen.

Der Erwerb und die Annahme der deutschen Staatsangehörigkeit ist das stärkste Bekenntnis zu Deutschland. Denn wer deutscher Staatsbürger werden will, sagt Ja zu einem Leben in einer freiheitlichen Gesellschaft, zur Achtung des Grundgesetzes, zur Rechtsstaatlichkeit und zur Gleichberechtigung von Frauen und Männern.

(Dr. Götz Frömming [AfD]: Das kann man in der Kriminalstatistik ablesen!)

Dieses Bekenntnis ist wichtiger als die Frage, ob jemand eine oder mehrere Staatsangehörigkeiten besitzt. Insofern verweise ich darauf, dass es Mehrstaatigkeit heißt und nicht doppelte Staatsbürgerschaft.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die Verpflichtung zur Aufgabe ihrer Herkunftsstaatsangehörigkeit stellt für viele Einbürgerungsinteressierte ein Hindernis dar. Sie fühlen sich Deutschland zugehörig, wollen aber den Bezug zu ihrem Herkunftsland nicht völlig verlieren. Der Grundsatz der Vermeidung der Mehrstaatigkeit entspricht schon seit Langem nicht mehr der tatsächlichen Einbürgerungspraxis. Im Jahr 2021 hat die Mehrstaaterquote bei den Einbürgerungen schon 69 Prozent erreicht. Der Grundsatz der Vermeidung von Mehrstaatigkeit ist schon lange nicht mehr die Norm, sondern die Ausnahme. Das sind die Fakten.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

Wir werden Mehrstaatigkeit daher künftig generell zulassen. Merken Sie sich bitte diesen Begriff! Mit anderen Begriffen haben Sie ja eher Probleme.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zuruf von der CDU/CSU: Sehr arrogant! Ehrlich!)

Dadurch wird auch die Optionsregelung beim Geburtserwerb vollständig entfallen. Künftig werden alle in Deutschland geborenen Kinder ausländischer Eltern, bei denen mindestens ein Elternteil seit mehr als fünf Jahren rechtmäßig und mit unbefristetem Aufenthaltsrecht in Deutschland lebt, die deutsche Staatsangehörigkeit und die Staatsangehörigkeit ihrer Eltern erhalten und vor allem dauerhaft behalten. Sie müssen sich nicht mehr für oder gegen einen Teil ihrer Identität entscheiden, und das ist längst überfällig, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

Eine schnellere Möglichkeit zur Einbürgerung ist ein wesentliches Element einer guten Einbürgerungskultur, die Teilhabe an Entscheidungen schafft. Menschen mit Einwanderungsgeschichte, die ein qualifiziertes Aufenthaltsrecht haben, sollen daher bereits nach fünf Jahren die Möglichkeit haben, eingebürgert zu werden. Warum sollten diejenigen, die hier bereits verwurzelt sind und alle Einbürgerungsvoraussetzungen erfüllen, auch weiter warten müssen? Wer zusätzliche Leistungen erbringt, kann die Voraufenthaltsdauer auch noch erheblich verkürzen.

Bei der Modernisierung unseres Staatsangehörigkeitsrechtes soll auch die Lebensleistung der Angehörigen der sogenannten Gastarbeitergeneration berücksichtigt werden. Das ist die Generation, die wir bis heute auf die Stuben der Ausländerämter verweisen, wenn sie einen neuen Pass beantragen und ihre Aufenthaltserlaubnis übertragen lassen müssen. Wir schicken sie zu Ausländerämtern und lassen sie wochenlang, monatelang darauf warten, dass sie eine Staatsleistung bekommen, die ihnen eigentlich schon längst hätte angediehen werden müssen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Es ist auch eine Frage des notwendigen Respektes, den wir diesen Menschen mit diesem Gesetz zollen. Sie haben in der Vergangenheit keine oder nur wenige Teilhabeangebote erhalten. Deshalb werden wir für sie bei der Einbürgerung Erleichterungen beim Sprachnachweis schaffen und auf den Einbürgerungstest verzichten. Diese Einbürgerungserleichterungen sollen für alle Personen gelten, die das gesetzliche Renteneintrittsalter erreicht, also das 67. Lebensjahr vollendet haben, damit auch sie eine realistische Möglichkeit zur Einbürgerung haben.

Mit der Hinnahme der Mehrstaatigkeit werden wir einen Paradigmenwechsel einleiten, der längst überfällig ist. Zugleich werden wir mit der Modernisierung des Staatsangehörigkeitsrechtes die Einbürgerung einfacher und attraktiver machen. Dies sind aber nicht die einzigen Gründe, warum wir ein moderneres Staatsangehörigkeitsrecht schaffen wollen.

Wir müssen das Staatsangehörigkeitsrecht auch reformieren, um Deutschland zukunftsfest zu machen. Wir haben es gerade in der Debatte teilweise gehört: Die Wirtschaft mahnt immer wieder an, dass der Fachkräftemangel ein wesentliches Hemmnis für das weitere Wirtschaftswachstum ist und damit den Wohlstand in Deutschland gefährden könnte.

(Konstantin Kuhle [FDP]: So ist es!)

Dann ist es doch gut und vor allen Dingen richtig, Deutschland für ausländische Fachkräfte attraktiver zu machen.

Wir haben bereits ein Mosaikbild vorgezeichnet. Einzelne Mosaiksteine haben wir bereits eingesetzt. Das Chancen-Aufenthaltsrecht kommt. Wir werden mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz, dem Familiennachzug und dem Staatsangehörigkeitsrecht weitere Mosaiksteine in dieses Bild einsetzen. Ich sage auch allen Kolleginnen und Kollegen hier im Haus: Ein Mosaikbild muss durch schnelle Vervollständigung der kleinen Steine, die da hineingehören, durch die vielen kleinen Diskussionen über die einzelnen Gesetze am Ende des Tages zu einem stimmigen Gesamtbild führen. Dieses Gesamtbild werden wir als Regierung sehr schnell herausarbeiten.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Der schnelle und vor allem schnellere Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit und damit eine sichere Perspektive in Deutschland kann ein weiterer wichtiger Baustein sein, um Fachkräfte zu motivieren, nach Deutschland zu kommen bzw. dauerhaft hierzubleiben. Eine Debatte über das Staatsangehörigkeitsrecht allerdings, die von Ressentiments und Stimmungsmache geprägt ist, wird einem modernen Einwanderungsland nicht gerecht und entspricht auch nicht der Meinung der politischen und gesellschaftlichen Mehrheit.

(Beatrix von Storch [AfD]: Wir sind kein modernes Einwanderungsland!)

Die Reform unseres Staatsangehörigkeitsrechtes ist eine große Chance, unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken. Um es etwas poetisch zu sagen – ich zitiere Victor Hugo –: „Nichts ist stärker als eine Idee, deren Zeit gekommen ist.“ Mittlerweile gibt es auch die entsprechenden Mehrheiten im Deutschen Bundestag dazu.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Die Kollegin Dr. Irene Mihalic hat das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7548952
Wahlperiode 20
Sitzung 73
Tagesordnungspunkt Aktuelle Stunde - Pläne der Bundesregierung zur schnelleren Einbürgerung
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