Helge LindhSPD - Änderung des Aufenthaltsgesetzes
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Chancen-Aufenthaltsrecht bricht mit dem unwürdigen Zustand, dass wir jahre-, ja jahrzehntelang zugelassen haben, dass Menschen perspektivlos im Zustand der Kettenduldung leben. Das betrifft allein zum Stichtag 31. Oktober dieses Jahres über 137 000 Menschen mit einem Aufenthalt von mehr als fünf Jahren.
Zusammen mit der Einführung einer behördenunabhängigen Asylverfahrensberatung, mit Anpassungen und Modernisierungen im Bleiberecht, mit der Asylverfahrensbeschleunigung, mit der Öffnung von Integrationskursen für Asylsuchende ist diese Änderung des Aufenthaltsgesetzes ein Gesetz der Vernunft. Es ist ein Gesetz des gesunden Menschenverstandes.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)
Es ist ein Gesetz der Mitte, der vernünftigen Mitte. Davon reden wir hier.
Eine herausragend große Zahl der Menschen in unserem Land, all diejenigen Deutschen, die an einem guten Zusammenleben interessiert sind, finden es sinnhaft, was wir hier machen. Wir haben ein breites Bündnis hinter uns. Es reicht von Menschen, die wissen, was es bedeutet, mit Menschen, die in Duldung leben, zusammenzuarbeiten, von Unternehmerinnen und Unternehmern, Arbeitgeberverbänden, Industrie- und Handelskammern bis zu denjenigen, die als Aktivisten oder in Kirchengemeinden, Moscheen und Synagogen Geduldete betreuen und begleiten. Das ist das breite Bündnis, von dem wir hier reden.
Deshalb sage ich ausdrücklich: Dieses Chancen-Aufenthaltsgesetz ist kein sozialdemokratisches Gesetz. Es ist auch kein grünes Gesetz. Es ist auch kein liberales Gesetz, sondern es ist ein Gesetz der Vernunft.
(Dr. Bernd Baumann [AfD]: Blödsinn!)
Wenn wir sagen, es sei ein sozialdemokratisches Gesetz oder ein grünes oder ein liberales Gesetz, dann gilt genauso, dass es ein Gesetz des Konservatismus ist. Denn wenn man konservativ denkt, muss man dieses Gesetz unterstützen. Konservativ bedeutet nämlich auch, Maß und Mitte zu finden, nicht rigoristisch zu denken und zu erkennen, was für Menschen wichtig ist, wenn sie Perspektiven haben wollen, wenn sie sich anstrengen und bemühen.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)
Deswegen würdige ich auch ausdrücklich, dass mindestens 19 Mitglieder der CDU/CSU-Fraktion in einer persönlichen Erklärung deutlich gemacht haben, welche Punkte sie nicht teilen, dass sie im Grundsatz aber die Idee gut finden, dass langfristig geduldete Menschen, die sich gut integriert haben, die Teil dieser Gesellschaft geworden sind, aber als solche nicht wirklich leben können, eine Perspektive erhalten durch den Chancen-Aufenthalt. Das kritisiere ich überhaupt nicht. Nein, das ist Ausdruck von Demokratie. Das verdient Hochachtung. Dabei sind Prominente wie Herr Laschet, wie Frau Grütters, wie Frau Güler, wie Herr Gröhe.
Was ich aber kritisiere, ist, dass der Anschein erweckt wird, als gäbe es einen geschlossenen Block gegen diese Haltung. Ich habe schon in meiner letzten Rede in der ersten Lesung darauf hingewiesen, dass die größte Landesregierung, CDU-geführt, uns ausdrücklich auffordert, dieses im Koalitionsvertrag zu machen, und dem durch das Erlassen einer Vorgriffsregelung vorarbeitet.
(Mechthilde Wittmann [CDU/CSU]: Die Aussage war damals falsch und ist jetzt falsch!)
Wir haben – auch das muss man mal sehen – die behördenunabhängige Asylverfahrensberatung schon unter einem CDU-Innenministerium pilotiert. Die Sinnigkeit dieser Maßnahmen haben Sie selbst also schon erkannt, und jetzt üben Sie dagegen Opposition. Das mag verstehen, wer will. Ich verstehe es nicht.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP – Friedrich Merz [CDU/CSU]: Das macht nichts!)
Wenn in diesen Tagen, in denen es ja wieder üblich geworden ist, das Thema Migration komplett zu ideologisieren und emotionalisieren,
(Thorsten Frei [CDU/CSU]: Das stimmt! Ja!)
davon gesprochen wird – ich zitiere jemanden; er weiß, wer angesprochen ist –, dass wir die Staatsangehörigkeit „verramschen“ würden, dass das die Integration nicht fördern würde, dass wir damit Pull-Effekte für illegale Migration auslösen würden, zeigt das, dass diese Person nicht verstanden hat, was Staatsangehörigkeit bedeutet, nämlich dass es ein Kompliment ist, wenn Menschen deutsche Staatsangehörige werden wollen.
(Thorsten Frei [CDU/CSU]: Ja, klar! Alle sind dumm außer Ihnen, oder?)
Wer das sagt, hat nicht verstanden, was Integration bedeutet. Es ist ein Kompliment für dieses Land, dass Menschen hier Deutsch lernen, hier leben wollen, sich einfügen in dieses Land.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP)
Wer das sagt, hat nicht begriffen, dass Änderungen im Aufenthaltsgesetz oder Staatsangehörigkeitsrecht doch nicht die Hauptgründe sind, warum sich Menschen auf die Flucht begeben. Das ist doch Irrsinn; das ist eine Fehldeutung.
Die Realität ist folgende: Vor meinem Büro stand vor nicht allzu langer Zeit Lamarana D. und hat geschildert, wie lange er schon in diesem Land lebt. Er ist vor fast sieben Jahren aus Guinea gekommen und wäre fast verreckt auf der Anreise. Er hat sofort Deutsch gelernt. Sein Schriftdeutsch ist besser als das in jeder Bachelorarbeit. Er hat eine Freundin, ist verlobt, kann aber nicht heiraten wegen der ungeklärten Identitätsfrage. Er hat sich immer Arbeit gesucht und nie von Transferleistungen gelebt. Er hat sich sofort einem Sportverein angeschlossen. Er möchte mit seiner Freundin am liebsten mit einem Wohnmobil nach Frankreich fahren und campen. Der Mann ist besser integriert, der ist deutscher, als ich es je sein könnte.
(Lachen bei der AfD – Friedrich Merz [CDU/CSU]: Das kann gut sein!)
Was für einen Sinn macht es, diesem Mann eine Chance in diesem Land zu verwehren? Es macht keinen Sinn.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der FDP und der LINKEN)
Es wird der Anschein erweckt, als ob wir ernsthaft in der Lage wären, Tausende, Hunderttausende wie ihn abschieben zu können. Dann würden wir unsere ganzen Landes- und Bundespolizeien lahmlegen. Wir können es im Realfall nicht.
Wir haben also die Wahl: Akzeptieren wir diesen Istzustand und geben diesen Menschen eine Chance, oder machen wir weiter so, dass sie ohne Perspektive hierbleiben, aber auch nicht abgeschoben werden? Für mich ist diese Entscheidung glasklar. Es ist eine Entscheidung des Pragmatismus, der Vernunft und auch der Menschlichkeit.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)
Es zeichnet nämlich eine Gesellschaft nicht aus, einen Wettbewerb zu machen, wer am härtesten und am unmenschlichsten ist, sondern es zeichnet eine Gesellschaft aus, dass sie mit ihrer Gesetzgebung der Realität und den Erwartungen einer Bevölkerung, die sehr souverän, sehr selbstbewusst mit Migration umgeht, endlich gerecht wird. Diese Entscheidung haben wir heute; vor der stehen wir. Sagen Sie Ja.
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)
Nächste Rednerin: für die Fraktion der CDU/CSU Andrea Lindholz.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7549127 |
Wahlperiode | 20 |
Sitzung | 74 |
Tagesordnungspunkt | Änderung des Aufenthaltsgesetzes |