14.12.2022 | Deutscher Bundestag / 20. WP / Sitzung 75 / Tagesordnungspunkt 1

Friedrich MerzCDU/CSU - Regierungserklärung zum EU-ASEAN-Gipfel und EU-Rat

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Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir begrüßen ausdrücklich, dass Sie, Herr Bundeskanzler, vor dem letzten Europäischen Rat in diesem Jahr und auch vor dem ersten EU-ASEAN-Gipfel heute eine Regierungserklärung vor dem Deutschen Bundestag abgeben.

Wir teilen Ihre Einschätzung des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine und vor allem Ihre Bewertung der Entwicklung dieses Krieges in den letzten Wochen. Das russische Regime unter Präsident Putin verübt mit den gezielten Angriffen gegen die Infrastruktur des Landes, gegen die Wohnbezirke, gegen Kinderheime, gegen Krankenhäuser und Altenheime schwerste Kriegsverbrechen, für die Putin und seine Schergen eines Tages von der Weltgemeinschaft zur Rechenschaft gezogen werden müssen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP und des Abg. Thomas Lutze [DIE LINKE])

Wir stimmen Ihnen zu, Herr Bundeskanzler, dass die Europäische Union und die NATO in den Wochen und Monaten seit dem Beginn dieses Krieges am 24. Februar zusammengewachsen sind und sich als handlungsfähig erwiesen haben.

Putin und sein verbrecherisches Regime haben vor allem die Widerstandsfähigkeit der Ukraine, die Standhaftigkeit ihrer Regierung unter Präsident Selenskyj, die Opferbereitschaft und die Leidensfähigkeit ihrer Bevölkerung und auch die Einsatzfähigkeit und Kampfkraft der Armee vollkommen unterschätzt.

Wir können zum Ende dieses, wie Sie es gesagt haben, Herr Bundeskanzler, besonders schweren Jahres dem ukrainischen Volk nur mit größtem Respekt unsere Anerkennung und auch unsere Anteilnahme an seinem Schicksal aussprechen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Zum Ende des Jahres trauern die Familien in der Ukraine um viele Tausend gefallene und verwundete Soldaten, um viele Tausend getötete Kinder, junge und ältere Menschen, unschuldige Männer und Frauen, die diesen Kriegsverbrechen zum Opfer gefallen sind. Wenn wir, meine Damen und Herren, in wenigen Tagen unser Weihnachtsfest feiern, in unserem Land, in dem wir doch das große Glück haben, in Frieden und Freiheit zu leben, dann sind unsere Gedanken auch bei den Menschen in der Ukraine, die unvorstellbares Leid und unvorstellbare Not in diesen Tagen aushalten müssen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Dem Land stehen im Winter weiterhin schwere Wochen und Monate bevor. Es ist deshalb wichtig, dass wir unsere Unterstützung und Hilfsbereitschaft erneut unterstreichen und darin nicht nachlassen. Das gilt für die humanitäre und finanzielle Hilfe; das gilt aber auch für die militärische Hilfe. Anders als der ein oder andere in diesem Haus und außerhalb meint, sagen und denken zu müssen, verlängert unsere Hilfe diesen Krieg nicht. Das Gegenteil ist richtig: Je mehr wir helfen, desto schneller ist dieser Krieg vorüber.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Deshalb, Herr Bundeskanzler, bleiben wir dabei: Ja, Deutschland hat nach langem Zögern einiges an wichtigem militärischen Gerät geliefert. Aber nach wie vor fehlen der ukrainischen Armee Schützenpanzer und Kampfpanzer, die wir aus unseren Beständen und aus Beständen der Industrie liefern könnten. Fast zehn Monate nach Beginn dieses Krieges verstecken Sie, Herr Bundeskanzler, sich immer noch hinter den NATO-Partnern, die angeblich auch nicht liefern wollen. Wir wissen mittlerweile, dass dies falsch ist. Es liegt vor allem an Ihnen ganz persönlich, dass die Ukraine diese Hilfe nicht bekommt.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Sie haben in Ihrer Rede gesagt: Wir haben hier in Deutschland unsere Verteidigungspolitik neu ausgerichtet. – Herr Bundeskanzler, das nehmen die NATO-Partner und die Europäische Union anders wahr. Sie bleiben weit hinter den Zusagen zurück, die Sie von dieser Stelle aus am 27. Februar in Ihrer Regierungserklärung gegeben haben. Der Verteidigungsetat der Bundesrepublik Deutschland sinkt. Wenn wir viel Glück haben, dann wird heute im Laufe des Tages der Beschluss des Haushaltsausschusses des Deutschen Bundestages gefasst, von diesen 100 Milliarden Euro nun die ersten Mittel freizugeben – zehn Monate nach dem Beginn des Krieges,

(Thomas Rachel [CDU/CSU]: Peinlich!)

mehr als ein halbes Jahr, nachdem wir hier unter großem Zeitdruck, unter den Sie uns gesetzt haben, die Änderung des Grundgesetzes beschlossen haben.

(Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von der FDP)

Diese Einschätzung, die Sie hier abgegeben haben, stimmt nicht mit der Wirklichkeit überein.

Sie haben in Ihrer Regierungserklärung, Herr Bundeskanzler, die wichtige Zusammenarbeit innerhalb der Europäischen Union angesprochen. Natürlich teilen wir diese Einschätzung in dieser Frage mit Ihnen. Aber so wortreich Sie diese Zusammenarbeit als gut funktionierend dargestellt haben: Es ist doch nicht zu übersehen, dass wir zurzeit eine tiefe Störung des deutsch-französischen Verhältnisses erleben. Sehr viele Beobachter in Berlin und vor allem in Paris sprechen von einem Tiefpunkt der Beziehungen. Und es war der französische Staatspräsident, der Ihnen am Rande des letzten Gipfels in Brüssel gesagt hat – wörtlich –: Es ist nicht gut, „wenn Deutschland sich isoliert“. – „Der Tagesspiegel“ titelt heute: „Einzelgänger in der EU-Politik“. Herr Bundeskanzler, das ist die Wahrnehmung anderer außerhalb Ihrer Regierung.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich füge eine Bemerkung hinzu, da Sie noch einmal auf die Rede Bezug genommen haben, die Sie im Sommer, im August an der Karlsuniversität in Prag gehalten haben. Sie haben in dieser Rede Frankreich, die deutsch-französischen Beziehungen, die gemeinsame Gründungsgeschichte in der Europäischen Union und die deutsch-französische Freundschaft als einen der wichtigsten Pfeiler der EU-Politik mit keinem einzigen Wort erwähnt. Das mag vielleicht in Ihrer Regierung niemand bemerkt haben. Aber in Paris ist das mit größter Aufmerksamkeit wahrgenommen worden. Das ist die Realität Ihrer Europapolitik.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir haben von Ihnen heute hier eine ganze Liste von Themen gehört, was jetzt in den nächsten Tagen weiter zu geschehen hat. Ich will es einmal so sagen: Sie listen wie ein guter Anwalt akribisch das Inventar auf, das sich in dem Haus befindet, das wir gemeinsam bewohnen. Aber Ihnen fehlt fast völlig der Blick für die Statik dieses Hauses, für das Fundament dieses Hauses,

(Jürgen Coße [SPD]: Reden Sie über sich selber?)

und Ihnen fehlen die Fantasie eines Architekten und der entschlossene Wille eines Baumeisters,

(Christian Petry [SPD]: Selbstreflexion ist gut!)

dieses Haus in Europa jetzt wetterfest und zukunftsfähig zu machen und vielleicht in diesem Haus in Europa sogar einen neuen Teil zu bauen.

(Beifall bei der CDU/CSU – Timon Gremmels [SPD]: Sie haben das Haus kaputt zurückgelassen!)

– Wenn Sie jetzt so dazwischenrufen, dann will ich Ihnen drei konkrete Beispiele nennen, über die wir heute Morgen eigentlich auch sprechen müssten.

(Timon Gremmels [SPD]: Wir renovieren, was Sie kaputt zurückgelassen haben!)

Sie haben über die deutsch-amerikanischen und die europäisch-amerikanischen Wirtschaftsbeziehungen gesprochen. Was folgt denn aus dieser Beschreibung, die Sie heute Morgen abgegeben haben?

(Zuruf des Abg. Jürgen Coße [SPD])

Heißt das im Klartext, dass Sie, die SPD und die Grünen, jetzt dafür sind, dass mit Amerika ein neues Freihandelsabkommen ausverhandelt wird? Ja oder nein?

(Beifall bei der CDU/CSU – Johannes Vogel [FDP]: Es gab eine Beschlussfassung! – Christian Dürr [FDP]: Haben wir beschlossen! – Christian Petry [SPD]: Wer lesen kann, ist klar im Vorteil!)

Sie haben hier über China gesprochen und über die Notwendigkeit, uns etwas unabhängiger von China zu machen. Sie treffen sich jetzt richtigerweise mit den ASEAN-Staaten in Brüssel. Was heißt das denn konkret, etwa im Hinblick auf die Handelsbeziehungen zu Südamerika? Sind Sie jetzt dafür, dass das Mercosur-Abkommen, das ausverhandelt ist mit den südamerikanischen Staaten, ratifiziert und verabschiedet wird als ein neues Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union und den Mercosur-Staaten?

(Beifall bei der CDU/CSU – Christian Dürr [FDP]: Das haben wir beschlossen, Herr Merz! Was ist das denn? Wo waren Sie denn da? Das haben wir hier beschlossen!)

Und dann muss ich Ihnen, Herr Bundeskanzler, sagen – das hat mich nun wirklich fast entsetzt –:

(Zurufe von der SPD: Oah!)

– ich bin gespannt, ob Sie gleich immer noch so reagiere: – Ist Ihnen eigentlich aufgefallen, dass der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung nicht ein einziges Wort zu den Vorgängen im Iran gesagt hat, meine Damen und Herren?

(Beifall bei der CDU/CSU – Jürgen Coße [SPD]: Sie machen sich mehr Sorgen um uns als um sich selbst!)

In diesem Land werden seit drei Monaten auf offener Straße Demonstranten erschossen. Dieses Land versorgt die Hisbollah und die Hamas mit den finanziellen Mitteln, die diesen Terror überhaupt erst möglich machen. Dieses Land finanziert die Drohnen, die Russland gegen die Zivilbevölkerung in der Ukraine einsetzt.

(Gunther Krichbaum [CDU/CSU]: So ist es!)

Und Sie erwähnen dieses Land mit keinem einzigen Wort!

Herr Bundeskanzler, es wäre doch richtig gewesen, am heutigen Morgen zu sagen, dass Sie sich dafür einsetzen, dass dieses Land jetzt vollkommen isoliert wird und dass von Deutschland eine Initiative ausgeht,

(Marianne Schieder [SPD]: Das ist in diesem Haus zigmal gesagt worden!)

das Land Iran jetzt so zu isolieren, dass es keine Chance mehr hat, den internationalen Terrorismus zu finanzieren.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Warum geben Sie uns in der Befragung Ihrer Regierung keine Antwort auf die Frage, ob Sie sich bei diesem Gipfel, der jetzt in Brüssel stattfindet, dafür einsetzen, diese sogenannten Revolutionsgarden, die die Stütze des Regimes sind, als eine Terrororganisation einzustufen? Warum bekommen wir noch nicht einmal eine Antwort von Ihrer Regierung, wenn wir Ihnen diese Frage stellen? Ja oder nein, Herr Bundeskanzler?

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ihre Regierungserklärung enthält viel Richtiges – keine Frage –, mit dem wir einverstanden sind und was wir selbstverständlich aus Überzeugung auch mitverantworten wollen.

(Marianne Schieder [SPD]: Schon mal ein Anfang!)

Aber es fällt doch auf, dass ganz wesentliche Teile fehlen und dass Sie vor allem den Fragen gezielt aus dem Wege gehen, die in Ihrer Regierung offenkundig streitig sind, auf die das stärkste und bevölkerungsreichste Land der Europäischen Union aber eigentlich gerade zum Abschluss des Jahres 2022 eine Antwort geben müsste. Herr Bundeskanzler, diese Antworten bleiben Sie uns schuldig.

(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU)

Nächste Rednerin: für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Katharina Dröge.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP)

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Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7549299
Wahlperiode 20
Sitzung 75
Tagesordnungspunkt Regierungserklärung zum EU-ASEAN-Gipfel und EU-Rat
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