15.12.2022 | Deutscher Bundestag / 20. WP / Sitzung 76 / Tagesordnungspunkt 19

Carolin WagnerSPD - Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft

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Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Damen und Herren! In meiner 13-jährigen beruflichen Laufbahn im Hochschulbereich habe ich viele tolle Kolleginnen und Kollegen erlebt, die den Traum hatten, an der Universität zu arbeiten. Sie haben alles auf sich genommen. Sie haben nach höchsten Ansprüchen wissenschaftliche Fragestellungen verfolgt. Sie haben tagsüber und nachts an ihren Arbeiten geschrieben, am Wochenende und an Feiertagen. Sie haben tolle Seminare gehalten und alle Aufgaben, die am Lehrstuhl anfielen, mit Freude übernommen und mit Bravour umgesetzt. Auf die Arbeitszeit haben sie nie geachtet. Sie waren immer da, auch wenn sie nur eine halbe oder Viertelstelle hatten.

In Ihrem Antrag haben Sie, werte Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion, besorgniserregende Zahlen aus der Evaluation herausgegriffen. 81 Prozent des gesamten hauptberuflich wissenschaftlichen Personals, ohne Professorinnen und Professoren, war 2020 befristet beschäftigt. Selbst noch ab der Gruppe der Promovierten herrscht eine Befristungsquote von 63 Prozent. Die Hälfte der Beschäftigten im Alter von 42 bis 43 Jahren ist befristet beschäftigt. Da ist bei vielen die Zeit der Familiengründung schon vorbei. Sie wurde nicht selten immer weiter aufgeschoben und schließlich verworfen, weil die Einkommensverhältnisse, die beruflichen Zukunftsaussichten sie nicht zugelassen haben.

Wahrscheinlich ist dies auch einer der Gründe, warum sich viele Frauen deutlich häufiger früher aus der Wissenschaft verabschieden als Männer, weil sie in der Altersspanne zwischen 30 und 40 Jahren in diesem Bereich keine berufliche Perspektive erhalten und schon gar keine, die mit einem Familienwunsch kompatibel wäre. Beides, die geringe Kinderquote unter Akademikerinnen und Akademikern und der Aderlass von Frauen aus dem Wissenschaftssystem, sind bittere Nebeneffekte genau dieser prekären Beschäftigungspraxis in der Wissenschaft, die wir unbedingt beseitigen müssen, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

Dabei sind die Baustellen im Wissenschaftszeitvertragsgesetz aber nicht neu, wie die Kollegin Gohlke schon gesagt hat. Blickt man auf die erste Novelle, den Gesetzentwurf vom Oktober 2015, dann sieht man, dass der Gesetzgeber auch hier schon die prekären Auswüchse erkannt hatte und beseitigen wollte. Dort heißt es – ich zitiere –, „… dass der Anteil von Befristungen – insbesondere über sehr kurze Zeiträume – ein Maß erreicht hat, das weder gewollt war, noch vertretbar erscheint“. Das war 2015.

Die Evaluation vom Mai dieses Jahres zeigt eindeutig, dass die Novellierung des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes 2016 nicht das gebracht hat, was wir uns alle gewünscht haben, nämlich dass prekäre Beschäftigungsformen an Hochschulen und Forschungseinrichtungen zurückgedämmt werden. Immerhin geht es doch hier um die Frage, wie wir mit klugen Köpfen in unserem Land umgehen, die Deutschlands Position als Wissenschafts- und Forschungsnation sichern. Und Fakt ist: Derzeit gehen wir nicht gut mit Ihnen um.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

Klar ist, wir können es nicht wollen, dass eine Karriere in unserem Wissenschaftssystem wegen Unkalkulierbarkeit unattraktiv wird und unser Spitzenpersonal ins Ausland abwandert. Wir können es nicht wollen, dass Nachwuchswissenschaftler/-innen den Kopf nicht frei haben für ihre Forschung und Lehre, weil sie ständig an die nächste Vertragsverlängerung denken müssen. Wir können es nicht wollen, dass sich talentierte Menschen zu lange auf den Weg gemacht haben, eine Karriere in der Wissenschaft zu verfolgen, die dann, wenn die ersehnte Stelle doch nicht frei ist, für eine alternative Karriere außerhalb von Forschung und Lehre oft nicht passend vorbereitet sind.

Außerdem muss man ganz klar sagen: Prekäre Beschäftigung ist nicht die Voraussetzung dafür, dass Deutschland ein Innovationsstandort bleibt, dass wir exzellente Forschung leisten können. Gern wurde als vermeintliches Argument in die Debatte eingeführt, dass möglichst viel Unsicherheit über die berufliche Stellung die Leistung quasi befeuern würde. Aber das ist Quatsch. Das Gegenteil ist der Fall.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Zukunftssorgen rauben vielen jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern immer wieder die Motivation für ihre wissenschaftliche Arbeit. Die vielen kleinteiligen Arbeitsverträge fressen Kapazitäten in den Personalverwaltungen. Wir sind uns also einig: Es besteht Handlungsbedarf. Und genau deswegen haben wir diesen im Koalitionsvertrag auch ganz klar verankert ‑ich zitiere –:

Gute Wissenschaft braucht verlässliche Arbeitsbedingungen. Deswegen wollen wir das Wissenschaftszeitvertragsgesetz auf Basis der Evaluation reformieren. Dabei wollen wir die Planbarkeit und Verbindlichkeit in der Post-Doc-Phase erhöhen und frühzeitiger Perspektiven für alternative Karrieren schaffen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Seit einem Jahr keine Vorschläge!)

Werte Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion, ich weiß, dass Sie ein großes Augenmerk auf die Themen „Arbeit“ und „Bildung“ haben und da auch mit ganz viel Expertise im Ausschuss mitarbeiten. Mit Ihrem Antrag ist es aber so, als würden Sie kühn in eine Backstube laufen und der Bäckerin lauthals zurufen: „Nun backe doch Brötchen!“, aber derweil sind diese schon längst im Ofen.

Das Bildungsministerium hat nach der Veröffentlichung des Evaluationsberichts einen Fachkongress mit allen Beteiligten einberufen, mit Vertreterinnen und Vertretern der Beschäftigten der Hochschulen, der Forschungsorganisationen, der Länder, der Gewerkschaften. Zudem konnten Interessierte sowohl vor Ort als auch per Livestream teilnehmen und Fragen einbringen – völlig transparent und offen. Danach ist das BMBF in einen Fachdialog eingetreten und hat sich mit allen Beteiligten, Gewerkschaften, HRK, Vertretungen von Studierenden- und Doktorandenverbänden und, und, und zusammengesetzt und deren Blickwinkel und Hinweise im Gespräch nochmals eingesammelt.

Und jetzt, nach diesem umfassenden Beteiligungsprozess, wird ein Referentenentwurf für die Reform des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes erarbeitet.

(Lars Rohwer [CDU/CSU]: Es liegt immer noch nichts vor!)

Er ist für Anfang des kommenden Jahres angekündigt. Die Brötchen sind schon längst im Ofen, werte Kolleginnen Kollegen von der Linksfraktion. Schnuppern Sie doch mal! Sie müssten es schon riechen können.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich will damit sagen: Wir, die Zukunftskoalition, sind dran. Wir werden die Vereinbarungen aus dem Koalitionsvertrag umsetzen und endlich für gute Arbeit in der Wissenschaft sorgen.

Vielen herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Vielen Dank, Frau Kollegin Wagner. – Nächster Redner ist der Kollege Lars Rohwer, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7549608
Wahlperiode 20
Sitzung 76
Tagesordnungspunkt Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft
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