19.01.2023 | Deutscher Bundestag / 20. WP / Sitzung 79 / Tagesordnungspunkt 9

Derya Türk-NachbaurSPD - Völkermord an den Êzîdinnen und Êzîden

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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Exzellenz Mir Hazim! Herr Botschafter! Sehr geehrte, liebe Meyan Xatun! Sehr geehrte Damen und Herren! Auch ich möchte mich bei den Überlebenden der jesidischen Gemeinschaft und bei den Familien der Opfer bedanken, die heute hier bei uns im Bundestag anwesend sind. Viele Menschen – das weiß ich – sind eigens aus dem Norden Iraks zu uns nach Berlin gereist. Das ist nicht selbstverständlich, und dafür möchte ich mich im Namen der gesamten SPD-Fraktion von Herzen bedanken.

(Beifall bei der SPD)

Das Grauen, über das wir heute reden, begann in der Nacht vom 2. auf den 3. August 2014 mit der Invasion des sogenannten „Islamischen Staates“. Das erklärte Ziel der IS-Terroristen – wir haben es gehört – war die systematische Auslöschung der Jesiden. Alles, was dann folgte, hat sich in Form von aufwühlenden Pressebildern in die Erinnerung eingebrannt. Frauen, Töchter und Kinder mussten damals mit ansehen, wie IS-Kämpfer in die Dörfer eindrangen und ihre Männer, Väter und Brüder ermordeten. Ganze Dorfbevölkerungen wurden verschleppt und auch für immer auseinandergerissen. Die Miliz drohte den Jungen mit dem Tod, wenn sie sich nicht freiwillig zum Islam bekehren lassen, Heranwachsende wurden als Soldaten und Selbstmordattentäter missbraucht und ihren Familien entrissen. Junge Frauen und Mädchen wurden vergewaltigt und als Sklavinnen verschleppt und in unmenschlicher Weise verkauft. Alte wurden ermordet oder kamen auf der Flucht um.

Seither flohen Tausende Jesidinnen und Jesiden aus der Region. Der Terror in Zahlen: 5 000 Menschen wurden allein in 2014 getötet, über 7 000 verschleppt und versklavt. Nach wie vor sind 2 850 Menschen als vermisst gemeldet; die Dunkelziffer ist weitaus höher. Aktuell leben noch 300 000 Jesidinnen und Jesiden in irakischen Flüchtlingslagern und warten bislang vergeblich auf eine Rückkehr in ihre Heimatregion. Massengräber und zerstörte Dörfer zeugen bis heute von dieser menschlichen Katastrophe.

Mit einer kleinen SPD-Delegation war ich vor einigen Monaten im Irak. Das Leid und die Perspektivlosigkeit der Verletzlichsten – der Frauen und der Kinder in den IDP-Camps – haben uns alle sehr berührt. Diese Frauen und Kinder wollen dringend nach über acht Jahren der Heimatlosigkeit in ihre Heimat zurück. Sie brauchen Unterstützung beim Wiederaufbau ihrer Dörfer im Shingal. Sie möchten in Sicherheit und Frieden leben. Ich bin zuversichtlich, dass sich die neue irakische Regierung beim Wiederaufbau und bei der Befriedung der Region weiter engagieren wird. Auf unsere Hilfe können sie zählen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Auch die jesidische Gemeinde, die Stämme sind bereit, die irakische Regierung mit ihrer Hände Arbeit beim Wiederaufbau tatkräftig zu unterstützen.

Zwischen all dem Leid und der Perspektivlosigkeit in der Hitze zwischen den einfachen Stoffzelten in Seyhan flackerte immer wieder die Entschlossenheit in den Augen der geflüchteten Jesidinnen und Jesiden durch. Ich habe Frauen kennengelernt, die sich durch ihren Mut und ihre Haltung von der Perspektivlosigkeit nicht haben brechen lassen. Auch nach acht Jahren hält sie die Hoffnung, bald in ihre Heimat zurückkehren zu dürfen, erhobenen Hauptes auf den Beinen. Ich habe Löwinnen kennengelernt.

Als Menschenrechtspolitikerinnen und ‑politiker aller Parteien war es uns unmöglich, vor diesen Verbrechen gegen die Menschlichkeit länger die Augen zu verschließen. Die Ampel hat deshalb mit der Union diesen Antrag auf den Weg gebracht. Wir stufen heute die Verbrechen von 2014 im Einklang mit den Kriterien der Vereinten Nationen als Völkermord ein.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der AfD)

Die unbeschreiblichen Gräueltaten der IS-Milizen dürfen nicht ungestraft bleiben – nicht im Irak und nicht in Deutschland. Denn eins ist klar: Ein Völkermord verjährt niemals.

Sehr geehrte Überlebende, sehr geehrte weltliche und geistliche Repräsentanten des Jesidentums, sehr geehrte Vertreterinnen und Vertreter der jesidischen Stämme, die heute hier sind: Wir verneigen uns heute als Deutscher Bundestag vor Ihnen. Wir würdigen Ihren Widerstand gegen das Unrecht und Ihre innere Stärke, sich nicht brechen zu lassen. Wir erkennen das unbeschreibliche Leid an, das Ihnen individuell und kollektiv widerfahren ist. Wir stehen an Ihrer Seite bei Ihrem Kampf um historische Gerechtigkeit, aber auch bei Ihrem Bemühen um Versöhnung und Wiederaufbau.

Heute ist ein wichtiger Tag. Die Anerkennung des Völkermordes ist keine Worthülse. Wir stellen heute gemeinsam zumindest ein Stück weit historische Gerechtigkeit her. Diese Grausamkeiten kann niemand rückgängig machen. Vollständige Gerechtigkeit wird es niemals geben können. Sie ist erst annähernd erreicht, wenn die Opfer aus den Massengräbern identifiziert, beerdigt und die Mörder bestraft worden sind, erst dann, wenn Klarheit herrscht über den Verbleib der vermissten Menschen und die letzten aus Gefangenschaft befreit worden sind. Wir wollen ihnen – den Überlebenden – eine Stimme geben. Das, finde ich, ist ein Grund zur Zuversicht. Wir werden ihnen unterstützend zur Seite stehen, dieses kollektive Trauma zu verarbeiten.

Die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann hat die Wirkung der Anerkennung von Verbrechen folgendermaßen beschrieben:

Die einzige Möglichkeit, diesen Zustand absoluter Ohnmacht zu überwinden und in eine neue Phase der Wiedergewinnung von Würde, Identität und Sicherheit zurückzukehren, besteht darin, dass diese tiefe Wunde anerkannt und auch von außen bestätigt wird.

Das tun wir heute. Unser Antrag geht genau diesen Weg. Er ist insofern ein Meilenstein.

Für uns war es außerdem wichtig, dass wir die jesidische Identität, die durch den Völkermord schwer erschüttert wurde, auch sprachlich sichtbar stärken, zum Beispiel, indem wir gegen anfängliche Widerstände die Selbstbezeichnung „êzîdisch“ erstmals in einem offiziellen Dokument verankern. Wir kommen damit dem Wunsch nach Respekt und Anerkennung der 235 000 in Deutschland lebenden Jesidinnen und Jesiden nach.

Ich freue mich ferner, dass wir als SPD die Schaffung eines interdisziplinären Instituts oder eines Lehrstuhls in Deutschland zur wissenschaftlichen Erforschung des Jesidentums und zum Abbau von Vorurteilen durchgesetzt haben. An dieser Stelle danke ich ausdrücklich meinem lieben Kollegen Peter Heidt, der sich im Bildungsministerium dafür sehr starkgemacht hat.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Ich danke allen, die sich konstruktiv eingebracht haben und über Parteigrenzen hinweg heute dieses deutliche Zeichen setzen. Solch grausame Verbrechen sollen uns nicht denken lassen, es könne nicht noch viel grausamer werden. Damit das nicht wieder geschieht, sind wir alle gefragt.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Der nächste Redner ist Martin Sichert für die AfD-Fraktion.

(Beifall bei der AfD)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7549950
Wahlperiode 20
Sitzung 79
Tagesordnungspunkt Völkermord an den Êzîdinnen und Êzîden
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