Zanda MartensSPD - Änderung des Strafgesetzbuches
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen der demokratischen Parteien! Heute müssen wir uns mit einer der unnötigsten Straftaten in unserem Land befassen: die Erschleichung der Beförderung durch ein Verkehrsmittel, umgangssprachlich: Schwarzfahren. Hierfür sieht das Strafgesetzbuch eine Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr oder Geldstrafe vor.
Ich möchte anhand einer ganz konkreten Geschichte stellvertretend für die Zigtausenden Einsitzenden im letzten Jahr klarmachen, warum wir mit der Kriminalisierung des Schwarzfahrens kein einziges sinnvolles Ziel erreichen.
„Kein einziges!“, möchte man schreien, wenn man die Geschichte von Gisa hört. Gisa ist eine ehemalige Obdachlose aus meinem Wahlkreis in Düsseldorf. Sie ist 56 Jahre alt und hatte erfolgreich gegen ihre Suchterkrankung gekämpft. Sie hatte endlich eine Wohnung bekommen und sich ein soziales Umfeld aufgebaut. Dann aber musste ein Gericht sie zu einer Freiheitsstrafe verurteilen, für sechs Monate. Sie sitzt seit dem 4. November letzten Jahres im Gefängnis und muss dort noch bis Mai dieses Jahres bleiben.
Ja, es hätte nicht dazu kommen müssen, wenn sie nicht schwarzgefahren wäre. Eine Anmerkung am Rande: Das 9‑Euro-Ticket im letzten Sommer war übrigens gerade für diese Menschen ein Segen. Mit einer kleinen Rente oder wenn man sich mit Hartz IV oder jetzt Bürgergeld einschränken muss, musste man sich nicht zwischen Lebensmitteln und Fahrschein entscheiden.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)
Nun, Gisa ist schwarzgefahren, weil sie regelmäßig zu ihrem Methadonprogramm musste und glücklicherweise auch wollte, und zu Fuß war die Ausgabestelle nicht zu erreichen. Ja, das ist nicht in Ordnung; das ist ein Verstoß gegen die geltenden Regeln. Aber dafür eine Freiheitsstrafe?
Gisa ist jetzt in einer Zelle mit vier weiteren Frauen eingesperrt, wo sie nie zur Ruhe kommt, wo sie unter Entzugserscheinungen litt, weil sie kein Methadon mehr bekam, und ihre anderen Medikamente erst nach zwei Wochen bekommen hat. Gisa hat Weihnachten im Gefängnis verbracht, ohne ihre Tochter, ohne ihren Enkel, ohne ihren Hund.
Viele Tausend Menschen – eine genaue Zahl wird statistisch gar nicht erfasst – sitzen jedes Jahr aufgrund nicht beglichener Rechnungen im ÖPNV in Haft, also nicht nur die, die direkt zur Freiheitsstrafe verurteilt sind, wie Gisa, sondern auch die, die eine Geldstrafe nicht begleichen können, an deren Stelle dann eine Freiheitsstrafe tritt. Zählungen zu Stichtagen zeigen, dass im Schnitt bundesweit rund 10 Prozent aller Strafgefangenen eine Ersatzfreiheitsstrafe – so der Fachbegriff – verbüßen. Jede vierte Person davon sitzt aufgrund von Fahren ohne Fahrschein im Gefängnis.
Was ist das auch für ein volkswirtschaftlicher Unsinn! Ein Tag in Haft kostet den Steuerzahlenden zwischen 98 und 188 Euro.
(Zuruf des Abg. Axel Müller [CDU/CSU])
Gut, dass wir keine privaten Haftanstalten wie in den USA haben; dort ist es auch noch ein inhumanes Wirtschaftsmodell. Aber grob überschlagen kosten die Ersatzfreiheitsstrafen für Fahren ohne Fahrschein den deutschen Staat jedes Jahr fast 700 Millionen Euro.
(Zuruf des Abg. Patrick Schnieder [CDU/CSU])
Also: Warum um alles in der Welt muss Gisa, eine gesundheitlich stark angeschlagene und hilfsbedürftige Frau, jetzt seit Monaten im Gefängnis sitzen? Ihre medizinische Versorgung ist gefährdet; ihre Wohnungsmiete wird nicht weitergezahlt – also die Wohnung ist gefährdet –; die sozialen Kontakte sind unterbrochen. Und was für eine Frau soll im Mai dieses Jahres aus dem Gefängnis kommen? Gesundheitlich kaputt, schon wieder ohne Wohnung und ohne jegliche Perspektive? Und obendrauf haben wir Steuerzahlenden dafür Zehntausende Euro ausgegeben? Für dieses Geld hätte sie jahrelang von morgens bis abends mit Bus und Bahn Stadtrundfahrten machen oder sogar nach Sylt fahren können.
(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD)
Wenn es eines plastischen Beweises bedurft hätte, was für ein Unsinn die Kriminalisierung des Schwarzfahrens ist, hat Gisa ihn erbracht.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)
Wir können festhalten: Freiheitsstrafen für Fahren ohne Fahrschein treffen vor allem Obdachlose, Mittellose und suchtkranke Menschen – diejenigen, die eigentlich Schutz und Hilfe brauchen und stattdessen, frei nach Dostojewski, Verbrechen und Strafe bekommen.
Diese Freiheitsstrafen belasten nicht nur unnötig Polizei, Gerichte und Justizvollzug; sie verbrennen außerdem auch Steuergeld. Und zu guter Letzt stammt der Straftatbestand des Fahrens ohne Fahrschein auch noch aus dem Jahr 1935, und damit ist klar, wes Geistes Kind er ist.
(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und der AfD)
Was nun? Wenn wir feststellen, dass unser geltendes Recht solche Fälle zulässt, dann dürfen wir nicht länger zulassen, dass solches Recht weiter gilt. Nun ist die Bundesregierung das Problem bereits angegangen und hat im letzten Dezember eine Vorlage aus dem Bundesjustizministerium beschlossen. Diese umfasst eine grundlegende Reform der Ersatzfreiheitsstrafen im Strafgesetzbuch. Diese im Bundeskabinett beschlossene Reform des Sanktionsrechts ist wichtig für mehr soziale Gerechtigkeit in unserem Strafsystem und der Startschuss für die Beratungen im Parlament.
Ziele sind die Entlastung der Menschen, die wegen einer nicht bezahlten Geldstrafe in Haft müssen, und das Streichen von überflüssigen Straftatbeständen aus dem Strafgesetzbuch. Insbesondere bei den Ersatzfreiheitsstrafen und beim Umgang mit Schwarzfahren wollen wir uns im parlamentarischen Prozess für weitere Verbesserungen einsetzen; denn je mehr soziale Gerechtigkeit wir bei strafrechtlichen Sanktionen durchsetzen, desto besser ist es für unser Land und für die Menschen.
Wenn wir alsbald am Ziel sind, erübrigt sich auch hoffentlich der Antrag der Linken. Für eine gesetzliche Vorschrift, die spätestens seit 1945 abgeschafft gehört, sollten wir uns die paar Monate für ein ordentliches parlamentarisches Verfahren zugestehen.
Gisa wird das vielleicht nicht mehr helfen. Aber es wird zumindest sicherstellen, dass wir künftig keine bedürftigen Menschen mehr wegen Schwarzfahrens in den Knast schicken. Für Gisa ist es nämlich keine Symbolpolitik.
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP und der Abg. Susanne Hennig-Wellsow [DIE LINKE])
Vielen Dank, Frau Kollegin. – Das Wort hat nunmehr der Kollege Axel Müller, CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7550400 |
Wahlperiode | 20 |
Sitzung | 82 |
Tagesordnungspunkt | Änderung des Strafgesetzbuches |