26.01.2023 | Deutscher Bundestag / 20. WP / Sitzung 82 / Tagesordnungspunkt 14

Jan PlobnerSPD - Queere Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung

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Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen der demokratischen Fraktionen! Danke an Die Linke für die Möglichkeit zu dieser Debatte. Morgen in der Gedenkstunde werden wir Ausschnitte aus den Erinnerungen von Karl Gorath zu hören bekommen. Gorath wurde als polizeibekannter Homosexueller ins Zuchthaus und anschließend ins Konzentrationslager gebracht, das er dankenswerterweise überlebte. Nach den Schrecken des KZs und des Krieges zog er zurück nach Bremen und wurde dort 1946 von demselben Richter erneut zu Zuchthaus verurteilt – von demselben Richter und nach derselben Rechtslage! Ich glaube, es kann kaum ein eindrucksvolleres Bild für die Kontinuität der Verfolgung von queeren Menschen geben als dieses.

Wir werden morgen zum ersten Mal überhaupt in diesem Haus der queeren Opfer des Nationalsozialismus gedenken. Das möchte ich gerne zum Anlass nehmen, um der Frage nachzugehen, warum wir nach all den Jahren erst jetzt dieser Opfergruppe gedenken. Queerfeindlichkeit ist keine Randerscheinung des Nationalsozialismus gewesen. Sie wurden nicht zufällig verfolgt. Nein, eine der ersten Institutionen, die dem Faschismus in Berlin zum Opfer fielen, war das Institut des Sexualwissenschaftlers Magnus Hirschfeld; denn Faschismus bedeutet Konformität, bedeutet Gleichschritt und bedeutet den allumfassenden Zuschnitt des Alltags auf den sogenannten Volkskörper. Es gab den Soldaten und die Mutter, und alle Menschen hatten sich diesen Archetypen unterzuordnen. Normen galten ultimativ, und alles Abweichende wurde bekämpft, als sei es ein Angriff auf die ganz eigene körperliche Existenz. Was also ist queere Identität anderes als das Feindbild des Faschismus? Die Verfolgung queerer Menschen und queerer Spuren waren kein Zufallsprodukt der NS-Zeit. Das „Ausmerzen“ alles „Andersartigen“ war zentrales Mittel zum Erhalt der Macht – im zutiefst metaphorischen Sinne und mit höchst realen Konsequenzen für alle Menschen, die nicht in das Raster des Soldaten und der Mutter passten.

Warum also gedenken wir dieser queeren Opfer morgen zum ersten Mal in diesem Haus? Als im Jahr 1949 die zwei deutschen Staaten gegründet wurden, wurde § 175 Strafgesetzbuch als eine von zahlreichen Vorschriften unverändert aus der Zeit des Nationalsozialismus übernommen. Man entschied sich dagegen, queere Menschen unter den besonderen Schutz von Artikel 3 Grundgesetz zu stellen. Die strafrechtliche Verfolgung wurde eins zu eins fortgesetzt. Noch im Jahre 1957 urteilte das Bundesverfassungsgericht, § 175 StGB verstoße nicht gegen das Grundrecht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit, da homosexuelle Betätigung gegen das Sittengesetz verstoße. Also nein, vor dem Grundgesetz waren und sind bis heute im Zweifel nicht alle Menschen gleich. Und nein, wir haben uns als Gesellschaft bis heute nicht komplett von dieser Queerfeindlichkeit emanzipiert. Die Anerkennung als Opfergruppe erfolgte also schlicht und ergreifend zu spät, weil es eine Kontinuität in der Argumentation gibt: Queere Menschen seien „widernatürlich“. Wie könnte ihre Verfolgung da Unrecht sein?

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schäme mich wahnsinnig dafür. Ich schäme mich so sehr dafür, weil man sich in Deutschland so gerne die Geschichte vom vorbildlichen Umgang mit der Vergangenheit erzählt und dabei bis heute so konsequent ausblendet, wie kontinuierlich queere Menschen weiter verfolgt und abgewertet wurden.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

Die Historikerin Anna Hájková hat 2021 ein Buch über Homophobie und Holocaust veröffentlicht, dem sie einen so berührenden wie eindrucksvollen Titel gab: „Menschen ohne Geschichte sind Staub“. Queere Spuren haben etwas mit Sexualität und mit Geschlecht zu tun. Queere Spuren sind so vielfältig, wie es die Menschen sind. Queere Spuren können Nagellack sein, eine Träne in einem berührenden Moment, können die Sehnsucht nach einem Freund sein, der einem viel ähnlicher wäre, als es eine heterosexuelle Norm erlaubt.

Und dann höre ich diesen Zwischenruf: Haben wir denn nichts Wichtigeres zu tun? Dann höre ich von einem Kinderbuch, das eine Gefahr für die Kinder sein soll, weil darin auch ein gleichgeschlechtliches Paar zu sehen ist. Dann vernehme ich diese Frage, ob Transgeschlechtlichkeit nur ein Trend sei, auf den jetzt alle verwirrten jungen Menschen aufspringen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schäme mich sehr dafür. Queere Menschen gibt es immer und überall. Wir haben queere Spuren mit erschreckender Kontinuität aus unserem gesellschaftlichen Bewusstsein, aus unserer Geschichte getilgt. Wir haben queere Menschen zu Staub zerbersten lassen. Und jetzt sind wir überrascht, dass es sie gibt?

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schäme mich als Abgeordneter des Deutschen Bundestages. Aber als junger queerer Mensch, dessen einziges Glück es ist, zu jung zu sein, um die Geschichte von Karl Gorath zu teilen, bin ich manchmal einfach nur wütend.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der FDP und der LINKEN sowie des Abg. Dr. Jonas Geissler [CDU/CSU])

Ingmar Jung hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7550485
Wahlperiode 20
Sitzung 82
Tagesordnungspunkt Queere Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung
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