Konstantin KuhleFDP - Änderung des Bundeswahlgesetzes - Wahlrechtsreform
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ende des vergangenen Jahres, 2022, feierte der frühere Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble sein 50‑jähriges Jubiläum als Mitglied des Deutschen Bundestages, und dafür gebühren ihm zu Recht die Anerkennung und der Respekt des ganzen Hauses.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Angesichts dieser immensen Dauer der Parlamentszugehörigkeit von Wolfgang Schäuble muss man sich aber noch mal klarmachen, dass eine Parlamentszugehörigkeit von 50 Jahren nicht der Regelfall ist. Die durchschnittliche Dauer der Parlamentszugehörigkeit in Deutschland liegt bei ungefähr zwei Wahlperioden, also etwa 8 Jahren, nicht 50 Jahren. Bei allen Diskussionen über das Wahlrecht und über die Größe des Parlaments sollten wir das nicht vergessen.
In der parlamentarischen Demokratie erhält man ein Mandat auf Zeit. Deswegen sollte man auch, wenn man über die Verkleinerung des Parlaments spricht, nicht das Wahlrecht so ausgestalten, dass man sein eigenes Mandat behält, sondern man sollte das Wahlrecht so ausgestalten, dass es der Akzeptanz und dem Ansehen der parlamentarischen Demokratie nützt.
(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)
Wenn man jetzt eine Diskussion darüber führen will, den Bundestag zu verkleinern, unser Wahlrecht zu reformieren, dann steht man vor einem Dilemma. Es ist nämlich so, dass man nicht alle Erwartungen, die viele Menschen mit Blick auf das Wahlrecht in Deutschland haben, gleichzeitig erfüllen kann.
Die erste Erwartung ist: Eine Partei soll nur so viele Sitze im Parlament haben, wie es dem Wahlergebnis entspricht. – Wir haben in Deutschland ja ein Verhältniswahlrecht, und deswegen richtet sich die Sitzzahl einer Partei nach dem Ergebnis der Zweitstimmen. Nicht ohne Grund steht schon heute oben rechts auf jedem Stimmzettel zur Bundestagswahl der Zusatz: Die Zweitstimme ist die „maßgebende Stimme für die Verteilung der Sitze insgesamt auf die einzelnen Parteien“. – Schauen Sie mal nach! Es steht wirklich auf dem Stimmzettel zur Bundestagswahl drauf.
Die zweite Erwartung: Deutschland ist ein föderaler Staat, und der föderale Staatsaufbau soll sich auch bei der Organisation von Wahlen und bei der Organisation von Parteien niederschlagen. – Es gibt eben Landeslisten und keine Bundesliste. Es gibt sogar Parteien, die nur in einem einzigen Land antreten. Das soll so bleiben, das soll weiter möglich sein; denn der Föderalismus – so eine ganz wichtige Erwartung an das Wahlrecht – soll sich auch bei der Organisation von Wahlen niederschlagen.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Die dritte Erwartung ist: Jeder Wahlkreis soll einen direkt gewählten Abgeordneten haben. – Ja, das hat einen Wert an sich. Deutschland hat schon heute ein Verhältniswahlrecht, aber diese Verhältniskomponente ist ergänzt um eine Komponente der Personalisierung. Mit der Erststimme können die Menschen in den Wahlkreisen für einen Teil der nach der Verhältniswahl vergebenen Sitze bestimmen, welche Personen diese Sitze besetzen. Deswegen heißt es „personalisiertes Verhältniswahlrecht“ und nicht, weil erst die Wahlkreissitze und dann der Rest besetzt werden. Erst werden die Gesamtsitze zugeteilt, und dann wird für einen Teil dieser Sitze entschieden, welche Personen aus den Wahlkreisen es sind.
Diese dritte Erwartung wird von vielen Menschen formuliert, und Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU und CSU, machen zu Recht darauf aufmerksam, dass es diese Erwartung gibt.
Die vierte Erwartung: Man weiß vor der Wahl, wie groß der Bundestag nach der Wahl ist. – In fast allen Ländern auf der Welt weiß man das. Nur in Deutschland kann man das vorher nicht sagen. Das ist also die Erwartung, die wir momentan nicht erfüllen.
Man kann denklogisch nicht alle vier Erwartungen gleichermaßen erfüllen. Zweitstimmenproporz, Föderalismus, jeder Wahlkreis mit direkt gewähltem Abgeordneten und Garantie der festen Größe: Das sind die vier Erwartungen, die ich formuliert habe. Es ist schlichtweg nicht möglich, alle gleichzeitig zu erfüllen. Wir machen das momentan in der Weise, dass wir die Größe nicht garantieren und dass der Bundestag immer weiter aufwächst.
Warum wächst er immer weiter auf? Er wächst, weil sich unsere Gesellschaft und unser Parteiensystem verändern und verbreitern. Es gibt nicht mehr allein zwei große Parteien, die alle Wahlkreise gewinnen und die diese Siege mit einem entsprechenden Zweitstimmenergebnis unterlegen können. Wenn man das Wahlergebnis trotzdem in der Sitzverteilung abbilden und jeden Wahlkreis direkt vertreten lassen sein will, dann muss das Parlament immer größer werden, und je weiter sich das Parlament verändert, sich das Parteiensystem verändert und verbreitert, desto mehr Ausgleichsmandate braucht man, um die Überhangmandate der Parteien auszugleichen.
Aus dieser Spirale kommt man nicht heraus. Der Bundestag wird immer größer, und das beschädigt das Ansehen und die Akzeptanz der Demokratie, liebe Kolleginnen und Kollegen.
(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)
Deswegen legt die Ampelkoalition Ihnen heute einen Gesetzentwurf vor, mit dem die Erwartung, die Größe des Parlaments einzuhalten, sicher erfüllt werden kann. Wir schlagen vor, dass eine Partei nur so viele Sitze erhalten kann, wie ihr nach dem Wahlergebnis zustehen. Für den Fall, dass eine Überhangsituation eintritt – also der Fall, dass eine Partei in einem Bundesland in mehr Wahlkreisen die stimmenstärkste Person stellt, als ihr an Mandaten nach dem Zweitstimmenergebnis zustehen –, sind die Bewerber mit den relativ schwächsten Erststimmenergebnissen nicht gewählt. Das ist der wichtige Punkt: Sie sind in diesem Fall nicht gewählt.
(Beatrix von Storch [AfD]: Den Vorschlag hatte die AfD schon in der letzten Legislaturperiode! Aber schön, dass Sie es jetzt auch verstanden haben!)
Es geht nicht darum, jemandem, der schon gewählt ist, etwas wegzunehmen, sondern das Wahlrecht definiert ja gerade, wer gewählt ist und wer nicht.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Michael Frieser [CDU/CSU]: Das ist keine Wahl mehr! – Philipp Amthor [CDU/CSU]: Eine Wahl, wo keiner gewählt wird, ist keine Wahl!)
Und es ist auch völlig normal, dass an eine Wahl mehr als eine Bedingung geknüpft wird. Bei einer Bürgermeisterwahl in Deutschland müssen Sie in den meisten Bundesländern zwei Bedingungen erfüllen: Sie müssen mehr Stimmen als die anderen und mehr als 50 Prozent aller Stimmen erhalten haben.
(Philipp Amthor [CDU/CSU]: Aber es gibt am Ende einen Sieger!)
Bei einer relativen Mehrheit zu sagen: „Der Bürgermeister ist jetzt gewählt“, kommt keiner Kommunalwahlordnung in den Sinn. Das gab es mal für ein paar Jahre in NRW, in Niedersachsen auch mal, wurde aber wieder geändert.
(Philipp Amthor [CDU/CSU]: Aber der Bürgermeister ist dann gewählt!)
Niemand käme auf die Idee, die Bundesländer, die das so regeln, als Schurkenstaaten zu bezeichnen. Völlig absurd!
(Heiterkeit und Beifall bei der FDP, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Das ist das geltende Wahlrecht; das machen wir überall so. Und ob jemand gewählt ist oder nicht, richtet sich gerade nach dem geltenden Wahlrecht.
Wenn das, was die Ampelkoalition heute vorschlägt, ein beispielloser Bruch wäre, wenn also tatsächlich immer nur der direkt Gewählte der entscheidende Vertreter des Wahlkreises ist, dann müsste doch eigentlich bei jedem ausscheidenden direkt gewählten Abgeordneten eine Nachwahl im Wahlkreis stattfinden. Oder, Jürgen Trittin?
(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Das war sogar mal so! im ersten Bundeswahlgesetz war das so!)
Das tut man aber nicht, sondern der Nachrücker kommt von der Liste.
In unserem Wahlkreis, in Göttingen – wo ist Fritz Güntzler, der Dritte im Bunde? –, sind wir jetzt nur noch drei über die Liste gewählte Abgeordnete – Jürgen Trittin, Fritz Güntzler und meine Person –, weil Andreas Philippi, der direkt gewählte SPD-Kollege, vor ein paar Tagen Sozialminister in Hannover geworden ist.
(Beifall des Abg. Sebastian Hartmann [SPD] – Dr. Johannes Fechner [SPD]: Sehr gut! Guter Mann!)
Nachgerückt ist aber niemand aus Göttingen. Es ist jemand nachgerückt aus Celle. Wissen Sie, wie weit es von Göttingen nach Celle ist? Das sind 150 Kilometer.
(Heiterkeit und Beifall bei der FDP, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Die Entfernung zwischen Göttingen und Celle ist ungefähr so groß wie die Entfernung zwischen München und Nürnberg. Das muss man sich mal vorstellen!
(Heiterkeit und Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)
Eines – ich wünsche dem neuen Kollegen Mende alles Gute – ist völlig klar: Auch die über die Liste gewählten Abgeordneten sind vernünftige Vertreter ihrer Wahlkreise, liebe Kolleginnen und Kollegen.
(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Mit direkt Gewählten wird sich die FDP nie beschäftigen müssen!)
Es gibt in dem vorliegenden Antrag der Union übrigens einige sehr gute Punkte, etwa den Vorschlag, das Verhältnis von Wahlkreis- und Listenmandaten zu verändern; denn je mehr Listenmandate auf eine bestimmte Anzahl an Überhangkonstellationen treffen, umso unwahrscheinlicher wird nach dem Ampelmodell die Nichtzuteilung von Wahlkreismandaten. Lassen Sie uns darüber reden, lassen Sie uns dieses Gespräch weiterführen!
(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Bis jetzt haben wir nur Ablehnung gehört von Ihnen!)
Es sind ja einige sehr gute Vorschläge in dem Unionsantrag enthalten.
Eine Sache ist mir beim Blick in den Unionsantrag dann aber doch aufgefallen, weil da ja ein paar Zahlen drinstehen. Es steht drin, dass die Anzahl der unausgeglichenen Überhangmandate auf die verfassungsrechtlich zulässige Anzahl erhöht werden soll. Die Zahl 15 erwähnen Sie aber gar nicht.
(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Doch! – Philipp Amthor [CDU/CSU]: Doch, in der Begründung! – Friedrich Merz [CDU/CSU]: Das müssen Sie mal ganz lesen!)
Könnte es sein, dass, weil Sie von einer Regelgröße von 590 Abgeordneten sprechen, die Zahl eigentlich unter 15 liegen müsste? Und könnte es sein, dass die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum alten Wahlrecht auf das neue gar nicht anwendbar ist?
(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)
Daran sieht man schon: Wenn Sie anfangen, an der Regelgröße in dieser Weise rumzuschrauben und dann unausgeglichene Überhangmandate einzusacken, dann kommen Sie in Teufels Küche.
(Philipp Amthor [CDU/CSU]: Das ist nicht verboten, dass andere Parteien die auch kriegen!)
Das ist nicht zu machen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Deswegen möchte ich mich ganz herzlich bei Till Steffen, bei Sebastian Hartmann, auch bei Ansgar Heveling, bei allen Vertretern der Union bedanken. Es wäre, liebe Kolleginnen und Kollegen, ein Gewinn für die Demokratie, wenn wir mit einer breiten Mehrheit in diesem Hause ein neues Wahlrecht beschließen würden. Ich fände es auch einen Gewinn, wenn wir dieses Wahlrecht eines Tages in die Verfassung schreiben würden.
(Zuruf des Abg. Philipp Amthor [CDU/CSU])
Ich glaube, dass die vorliegenden Vorschläge der Ampel besser sind. Ich glaube aber, dass wir auf einem sehr guten Weg sind, uns hier vielleicht auch mit der Union zu einigen. Lassen Sie uns bitte einen gemeinsamen Weg finden, auch mit der Union, die Akzeptanz und das Ansehen der Demokratie zu befördern!
Vielen Dank.
(Beifall bei der FDP, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Nächste Rednerin ist für Die Linke Susanne Hennig-Wellsow.
(Beifall bei der LINKEN)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7550549 |
Wahlperiode | 20 |
Sitzung | 83 |
Tagesordnungspunkt | Änderung des Bundeswahlgesetzes - Wahlrechtsreform |