09.02.2023 | Deutscher Bundestag / 20. WP / Sitzung 85 / Zusatzpunkt 3

Erik von MalottkiSPD - Aktuelle Stunde: Drohender Kollaps des System Kita

Lade Interface ...
Anmelden oder Account anlegen






Sehr geehrter Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Bürgerinnen und Bürger! An meinem ersten Arbeitstag bei der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft in Mecklenburg-Vorpommern habe ich begriffen, was Kitakollaps ganz konkret bedeutet.

Mich bat eine Erzieherin einer Kita aus einer mecklenburgischen Kleinstadt um Unterstützung, deren Beschäftigte geplant hatten, in der nächsten Woche einen wilden Streik zu organisieren. Sie hatten keinen Tarifvertrag und wollten streiken, um höhere Löhne zu erzwingen. Das Erstaunliche war ihre Begründung: Sie wollten nicht etwa streiken, um ihre extrem niedrigen Löhne zu erhöhen, sondern sie hielten die ständige Fluktuation, die Nichtbesetzung von Stellen und die dadurch schlechte Qualität für die Kinder schlicht nicht mehr aus. Aus ihrer Sichtweise war ein höherer Lohn, ein Tariflohn das einzige Mittel, um wieder Personal zu gewinnen und gute Arbeitsbedingungen herzustellen.

Was für diese Kita in Mecklenburg galt, steht exemplarisch für die heutige Situation bundesweit. Für mich ist klar: Wir müssen einen Kitakollaps verhindern; denn in den ersten Lebensjahren wird der Grundstein für die emotionale, kognitive und sprachliche Entwicklung jedes Menschen gelegt. Hier werden Lebenswege von Menschen gestaltet und in vielen Fällen zum Positiven gewendet.

Es gibt aber noch einen anderen Aspekt. Mittlerweile ist der Fachkräftemangel der schwerste Bremsklotz für unsere wirtschaftliche Entwicklung. Wir werden diesen aber nur beseitigen, wenn wir es noch mehr Frauen erleichtern, ohne Probleme einer Arbeit nachzugehen. Dafür sind die Kitas und die Kindertagespflege – sprich: die Betreuung der Kinder – das entscheidende Nadelöhr.

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Nur wenn wir es schaffen, ausreichend Kitaplätze anzubieten, werden wir die notwendigen Fachkräfte gewinnen, um unser Land am Laufen zu halten. Laut Bundesstiftung Gleichstellung nehmen 5 Millionen Frauen – 5 Millionen Frauen! – im Erwerbstätigenalter nicht am Erwerbsleben teil. Hier liegt unsere Chance für die Deckung des Fachkräftebedarfs.

Wir haben bloß ein Problem: Die aktuelle Entwicklung geht genau ins Gegenteil. Ich habe in der letzten Woche mit Elternvertreterinnen und kommunalen Entscheidungsträgern aus Baden-Württemberg und speziell aus Tübingen gesprochen. Dort wurden am Montag die Öffnungszeiten der meisten städtischen Kitas aus Personalmangel so eingeschränkt, dass die Kita zukünftig bereits um 14.30 Uhr schließt. Wie sollen Eltern damit einen Vollzeitjob schaffen?

Tübingen ist kein Einzelfall oder eine Besonderheit. Laut der Bertelsmann-Stiftung fehlen uns bundesweit in den nächsten sieben Jahren mehr als 250 000 Fachkräfte für gute Kitas. Für mich steht fest: Es droht eine Kitakatastrophe, wenn wir nicht sofort die Fachkräftegewinnung auf Platz eins unserer Prioritätenliste setzen. Ich wiederhole deswegen meine Forderung nach einer Verantwortungsgemeinschaft aus Kommunen, Trägern, Bundesländern, Gewerkschaften und Bund und begrüße auch den Vorschlag eines Kita-Fachkräftegipfels. Wir müssen endlich die bekannten Lösungsvorschläge umsetzen.

Erstens. Die Löhne müssen endlich steigen.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Aktuell finden die Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst statt. Wir brauchen jetzt eine spürbare Lohnerhöhung für die Erzieherinnen und Erzieher.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)

Zweitens. Wir brauchen bessere Arbeitsbedingungen. Es braucht kleinere Gruppen und mehr Zeit für mittelbare pädagogische Arbeit. Neben dem Gehalt sind die schlechten Arbeitsbedingungen der Hauptgrund, warum Erzieherinnen und Erzieher den Beruf verlassen.

Drittens. Wir brauchen endlich mehr Ausbildungsplätze und Studienplätze. Wir brauchen flächendeckend praxisintegrierte und vergütete Ausbildung. Wir müssen das Schulgeld an allen Schulen abschaffen – am besten sofort.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Pascal Meiser [DIE LINKE])

Viertens. Wir müssen endlich dafür sorgen, dass der Beruf mehr Anerkennung erfährt und in der Öffentlichkeit aufgewertet wird.

Ich bin mir sicher, dass es sehr viele junge Menschen gibt, die diesen wichtigen und schönen Beruf ergreifen würden, wenn die Rahmenbedingungen stimmen. Deswegen kann ich nur sagen: Wir müssen das nun endlich anpacken, und dafür brauchen wir mehr finanzielle Mittel des Bundes. Mit Olaf Scholz möchte ich sagen: Darum geht es, und das ist ja wohl erreichbar für ein Land unserer Größe und unserer Bedeutung in Europa.

Danke.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Vielen Dank, Herr Kollege. – Letzte Rednerin dieser Debatte ist die Kollegin Nina Stahr, Bündnis 90/Die Grünen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7550890
Wahlperiode 20
Sitzung 85
Tagesordnungspunkt Aktuelle Stunde: Drohender Kollaps des System Kita
00:00
00:00
00:00
00:00
Keine
Automatisch erkannte Entitäten beta