Alexander DobrindtCDU/CSU - Regierungserklärung - Ein Jahr Zeitenwende
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Bundeskanzler, Sie haben sich in Ihrer Rede heute bei der CDU/CSU-Fraktion für die Unterstützung Ihrer Zeitenwende-Rede bedankt. Diese Unterstützung haben Sie nach wie vor. Aber zugegebenermaßen ist dem ersten Aufbruch leider viel Ernüchterung gefolgt. Es waren große Worte vor einem Jahr, aber es kam keine Wende. Sie haben einen höheren Wehretat versprochen; Sie haben einen niedrigeren Wehretat beschlossen. Sie haben die Vollausstattung der Bundeswehr angekündigt; Sie haben keine einzige Patrone bestellt. Sie haben das 2‑Prozent-NATO-Ziel in Aussicht gestellt, aber 1,5 Prozent erreicht.
Sehr geehrter Herr Bundeskanzler, das, was Sie uns heute über Ihre Zeitenwende erzählt haben, deckt sich in keiner Weise mit dem, was international über die Zeitenwende gedacht wird. Der „Economist“ schreibt beispielsweise von einem „verlorenen Jahr für Reformen“. Das „Wall Street Journal“ schreibt, dass der Kanzler, der die Zeitenwende verkündet hat, keine vollzogen hat. Richtig ist allerdings auch, dass die „Zeitenwende“ das Wort des Jahres 2022 ist. Aber, Herr Bundeskanzler, die Zeitenwende hätte nicht das Wort des Jahres, sondern die Tat des Jahres werden müssen! Und das haben Sie versäumt.
(Beifall bei der CDU/CSU – Saskia Esken [SPD]: Das ist es auch! Putins Krieg bedeutet die Zeitenwende! Das ist die Tat des Jahres!)
Sie haben in Ihrer Rede vorhin gesagt, dass Sie das 2-Prozent-NATO-Ziel einhalten wollen. Diese Zusage gilt: Das waren Ihre Worte. – Nein, sie gilt eben nicht. Warum sie nicht gilt, darüber kann man spekulieren; möglicherweise liegt es an Ihrer eigenen Fraktion.
(Saskia Esken [SPD]: Sie haben das Begleitgesetz mit beschlossen, Herr Dobrindt! Haben Sie es gelesen?)
Der neue Verteidigungsminister hat deutlich gemacht, dass es nicht ausreichen wird, sich dem 2‑Prozent-Ziel annähern zu wollen, und er fordert 10 Milliarden Euro zusätzlich jedes Jahr für den Verteidigungsetat.
(Saskia Esken [SPD]: Haben Sie das Begleitgesetz zum Sondervermögen gelesen, Herr Dobrindt?)
Im gleichen Moment stellt Ihre Parteivorsitzende Frau Esken öffentlich infrage, dass dieses Geld gebraucht wird.
(Saskia Esken [SPD]: Sie können leider nicht mal richtig zitieren!)
Der Kollege Klingbeil meint, er könne höhere Verteidigungsausgaben unterstützen. Der Kollege Mützenich sagt, Pistorius sollte sich vielleicht mehr um Innen- und Sozialpolitik kümmern. Jeder bei der SPD scheint genau zu wissen, wo er mit der Zeitenwende hin will, aber einen gemeinsamen Kurs haben Sie nicht.
(Beifall bei der CDU/CSU – Saskia Esken [SPD]: Da ist der Wunsch Vater des Gedankens!)
Sie haben das 100-Milliarden-Euro-Sondervermögen heute angesprochen – Sie haben dabei über die F-35 gesprochen –; Sie haben nicht darüber gesprochen, dass Sie im letzten Jahr keinen einzigen Euro davon ausgegeben haben. Die zugesagte Beschaffung von Munition im Wert von 10 Milliarden Euro haben Sie nicht erwähnt. Es ist auch überhaupt keine Beschaffung daraus erfolgt. Die ersten Mittel, die in diesem Jahr wahrscheinlich ausgegeben werden, werden für Bestellungen verausgabt, die schon in der letzten Wahlperiode aufgegeben worden sind.
Deswegen kann ich Ihnen nur raten: Nehmen Sie den Auftrag, den wir Ihnen mit den 100 Milliarden Euro mit auf den Weg gegeben haben, an dieser Stelle wahr. Der heißt nicht: „Zaudern, zögern oder zerreden“, sondern: „Beschaffen, beschleunigen und beschützen“. Das muss das Motto für die 100 Milliarden Euro sein.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Ihrer Verteidigungspolitik mangelt es übrigens nicht nur an den Panzerbestellungen, sondern auch an einem Plan. Im letzten Jahr hätte die Nationale Sicherheitsstrategie vorgestellt werden sollen. Man kann interessanterweise auf der Internetseite des Verteidigungsministeriums dazu nachlesen: Die Nationale Sicherheitsstrategie formuliert „eine Orientierung …, was die ‚Zeitenwendeʼ für Deutschland bedeutet“. Ja, wo bleibt diese Orientierung ein Jahr nach Kriegsbeginn? Auswärtiges Amt, Kanzleramt, Finanzministerium können sich offenbar nicht darauf verständigen. Man darf aber von einer Bundesregierung erwarten, dass sie zumindest bei Fragen der nationalen Sicherheit an einem Strang zieht. Sie schaffen es nicht!
(Beifall bei der CDU/CSU)
Zu Beginn dieser Woche hat Putins Stellvertreter Medwedew damit gedroht, dass die Ukraine von der Weltkarte verschwinden wird. Wer so spricht, der fühlt sich nicht bedroht, sondern der plant ein Verbrechen, der plant einen Völkermord. Wir in der CDU/CSU-Fraktion haben in dieser Woche die Chance gehabt, mit der Journalistin Katrin Eigendorf zu sprechen. Sie hat uns bedrückend beschrieben, dass dieser Angriffskrieg alle Elemente eines Völkermordes zeigt: Die Kultur wird zerstört, die Elite wird zerstört, die Kinder werden entführt und umerzogen. Wer angesichts dieser Situation unsere Waffenlieferungen zur Unterstützung der Ukraine zum eigentlichen Problem erklärt, verweigert sich offen dieser brutalen Realität, meine Damen und Herren.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Und wer sich dieser brutalen Realität verweigert, schafft auch keinen Frieden, sondern blickt auf die Zerstörung der Ukraine. Da kann aus einem „Manifest für Frieden“ schnell auch ein „Manifest für Zerstörung“ werden.
Ich rate allerdings ausdrücklich jedem, darauf zu achten, wer bei einer Demonstration neben einem steht. Diejenigen, die sich hier öffentlich versammeln, sind doch schon längst diejenigen, die sich im Geiste einig sind. Das Hufeisen schließt sich, und Sahra Wagenknecht schürt das Feuer. Darüber müssen Sie sich im Klaren sein, meine Damen und Herren.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)
In diesem Zusammenhang darf man den Hinweis geben: Ich bin ehrlich empört darüber, Herr Kollege Chrupalla, dass Sie dem Westen hier vorwerfen, er würde die Zerschlagung Russlands wollen. Das ist schlichtweg Putin-Propaganda. Dass Sie sich auch noch im Jahr 2023 im Deutschen Bundestag trauen, die Befreier des deutschen Volkes, die Vereinigten Staaten von Amerika, als die „Besatzer Deutschlands“ zu bezeichnen, das ist an Geschichtsvergessenheit nicht zu überbieten.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der AfD)
Ich würde Ihnen, liebe Frau Hasselfeldt, an der Stelle mal Folgendes raten:
(Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sigmund Freud lässt grüßen!)
Sie haben genau eine Minute gebraucht, um in Ihrer Rede auf die „16 Jahre“ zu kommen.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich würde Ihnen dringend empfehlen, weniger über die 16 Jahre nachzudenken als über die vergangenen 16 Monate.
(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Frau Hasselfeldt ist heute nicht da!)
In diesen 16 Monaten haben Sie Deutschland in Europa isoliert, Sie haben auf Unternehmensabwanderungen nicht reagiert, Sie haben die Inflation ignoriert, und Sie haben Rekordschulden angehäuft. Ich sage Ihnen:
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Wir werfen Ihnen nicht die Krisen vor, aber wir werfen Ihnen Ihr katastrophales Krisenmanagement vor. Das ist die eigentliche Wahrheit, um die es hier geht.
(Beifall bei der CDU/CSU – Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN], an Abg. Alexander Dobrindt [CDU/CSU] gewandt: Ich heiße Britta Haßelmann! – Gegenruf des Abg. Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: Was habe ich gesagt?)
Sie haben gerade „Hasselfeldt“ mit „Haßelmann“ verwechselt.
Der nächste Redner in der Debatte ist für Bündnis 90/Die Grünen der Kollege Jürgen Trittin.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7551257 |
Wahlperiode | 20 |
Sitzung | 88 |
Tagesordnungspunkt | Regierungserklärung - Ein Jahr Zeitenwende |