02.03.2023 | Deutscher Bundestag / 20. WP / Sitzung 88 / Tagesordnungspunkt 7

Helge LindhSPD - Migrationspolitischer Sonderweg in Europa

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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn nach einem Ereignis, bei dem ein Boot mit 150, mit 180 Personen zerborsten und zerschellt ist und mindestens Dutzende Personen ums Leben gekommen sind, zunehmend viele auch in diesem Hohen Hause eine „Das Boot ist voll“-Rhetorik bedienen, dann ist das ein erheblicher Ausdruck von Pietätlosigkeit und Geschmacklosigkeit – um das mal so deutlich zu sagen.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Aber auch Ihre These vom „migrationspolitischen Sonderweg“ hat ja System und Kalkül. Sie wird gezielt aufgestellt; es steckt Absicht dahinter. Es wird ganz bewusst eine „Anschein-Erweckungspolitik“ betrieben, und es wird getäuscht. Und diese „Anschein-Erweckungspolitik“, die Sie da betreiben, muss zerlegt werden, so wie man auch diesen Antrag – es tut mir leid – sezieren muss.

Zum einen ist der Antrag komplett out of date; das heißt, er ist weitestgehend schon abgearbeitet.

(Thorsten Frei [CDU/CSU]: Eben nicht!)

Ein „Sonderbevollmächtigter für Migrationsabkommen“ – so heißt er übrigens, nicht „Rückführungsbeauftragter“; einfach mal in den Koalitionsvertrag gucken – ist eingesetzt. Mit Serbien ist die Frage der Visapflicht – auch die Bundesinnenministerin hatte sich da vehement und erfolgreich eingesetzt – entsprechend geklärt. All das ist abgearbeitet. All diese Punkte sind längst bearbeitet. Ihr Antrag ist in weiten Teilen überholt. Das ist der eine Punkt.

Der andere Punkt ist Ihre These vom migrationspolitischen Sonderweg. Dieser Sonderweg ist eine Fata Morgana, und nicht nur das: Wenn Sie von diesem Sonderweg sprechen, ist es zum einen fahrlässig, ist es zum Zweiten unsinnig und unwahr und ist es zum Dritten gefährlich.

Erstens. Warum ist es fahrlässig? Sie wissen genau um die Begriffsgeschichte des Wortes „Sonderweg“. Hans-Ulrich Wehler – einschlägig bekannt, gewiss auch in der Union – beschreibt einen Sonderweg Deutschlands, der aufgrund mangelnder Modernisierung hin in den Nationalsozialismus führte. Ich finde es historisch wirklich vergessen und absolut unsensibel, ausgerechnet den Begriff „Sonderweg“ in diesem Zusammenhang zu verwenden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Zum Zweiten. Warum ist es unwahr und unsinnig? Es ist – das zeigt sich, wenn wir uns die Zahl der Asylanträge angucken – überhaupt nicht so, dass Deutschland einen Sonderweg geht. Schauen Sie sich Österreich an, wo die ÖVP regiert, mit einem ÖVP-Innenminister und ÖVP-Bundeskanzler. Wenn man die Anzahl der Asylanträge in Beziehung zur Größe der Bevölkerung setzt, zeigt sich, dass Österreich deutlich vor Deutschland liegt, trotz der demonstrativen österreichischen „Balkanroute zu“-Politik – erstaunlich, nicht wahr? Auch bei der Anerkennungsquote liegen die Nachbarländer Schweiz, aber auch Österreich nach Bereinigung der Zahlen vor Deutschland.

Dritter Bereich. Auch da ist die Sonderwegsthese eindeutig durch die Zahlen widerlegt. Bei den Abschiebungen haben Frankreich, Italien, Spanien viel niedrigere Quoten.

Also, Ihre Sonderwegsthese ist eine Täuschung, ist schlicht „Anschein-Erweckungspolitik“, und das ist unanständig in diesem Zusammenhang.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Was besonders unanständig ist, ist, dass Sie den Eindruck erwecken, dass die Kommunen durch nicht abgeschobene Geduldete und durch jetzt kommende Menschen aus Syrien oder Afghanistan unter dieser Belastung stünden. Wir haben – richtigerweise – über eine 1 Million Ukrainerinnen und Ukrainer aufgenommen. Dieses nicht unerhebliche Detail sollten Sie erwähnen! Keine Abschiebungsoffensive würde jemals etwas an diesem Umstand ändern.

(Thorsten Frei [CDU/CSU]: Wir sprechen von 250 000 Asylanträgen! Hören Sie doch zu!)

Diese Tatsache sprechen Sie aber gerade nicht aus, und das ist eine vehemente Täuschung. Es ist zutiefst unredlich, was Sie da betreiben.

(Thorsten Frei [CDU/CSU]: Sie sind unredlich!)

Wenn Sie wirklich die Ursachen für die jetzige Krisensituation, die aber trotz allem von vielen Kommunen hervorragend gemeistert wird, auch unterstützt vom Bund, von der Bundesinnenministerin und von einer großartigen Zivilgesellschaft, herausfinden wollen, dann sollten Sie mal auf die echten Fluchtursachen gucken, und die heißen: Putin und Putin-Regime, Taliban in Afghanistan und Assad-Regime. Das muss endlich mal ausgesprochen werden. Ich halte es für unerträglich, wenn Sie den Eindruck erwecken, wir würden die Lage der Kommunen substanziell verbessern, wenn wir weniger Menschen Bleiberecht geben würden oder massiv abschieben würden.

(Thorsten Frei [CDU/CSU]: Ja, natürlich ist es so!)

Das ist schlicht unwahr!

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Außerdem ist unwahr – das behaupten Sie –, es wäre ein Versagen der Bundesregierung, dass nicht abgeschoben wird. Haben Sie mal was von der Länderzuständigkeit für Abschiebungen gehört?

(Thorsten Frei [CDU/CSU]: Aber die Gesetze macht doch der Bund! Menschenskinder!)

Also, wenden Sie sich an Ihre Länder!

Vor allem: Merken Sie gar nicht, wie Ihr Vorwurf an den Bund zu Ihnen selbst zurückgeht?

(Zuruf von der SPD: Ja!)

Wer hat denn die Bundesinnenminister in den letzten Jahrzehnten – Herrn de Maizière, Herrn Seehofer – gestellt?

(Thorsten Frei [CDU/CSU]: Wer war denn bedauerlicherweise noch an der Regierung? – Andrea Lindholz [CDU/CSU]: Was Sie da sagen, das ist so schlimm!)

Warum waren Sie dann nicht erfolgreicher in Ihrem Sinne? Weil es gar nicht möglich war, weil viele Länder Geflüchtete nicht zurücknehmen, weil es schlicht nicht machbar ist, 300 000 oder 400 000 Menschen abzuschieben. Das ist übrigens auch nicht sinnvoll bei Menschen – Stichwort „Chancen-Aufenthaltsrecht“ –, die viele Jahre hier leben. Diese Täuschung muss hier im Hause mal klar benannt werden.

Es ist eine grobe Lüge, zu behaupten, es wäre ein politisches Versagen, durch nicht hinreichende Grenzkontrollen und nicht hinreichende Abschiebungen für die gegenwärtige Situation gesorgt zu haben. Das ist schlicht unwahr.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Entscheidend ist die Kriegssituation, und entscheidend ist auch, dass wir Regime wie in Syrien und Afghanistan haben.

Wenn wir von einem „Sonderweg“ sprechen – nehmen wir einen solchen Weg mal an –: Wir haben ein Aufnahmeprogramm für Afghaninnen und Afghanen. Wollen Sie jetzt aber sagen, dass wir Menschen aus Afghanistan, für die wir ja auch Verantwortung tragen, die gegen dieses barbarische Regime eintreten – darunter viele Frauen, die höchst gefährdet sind –, nicht aufnehmen sollten? Deshalb rate ich Ihnen auch, nicht Ausdrücke wie „Programm zur Aufnahme von Migranten“ zu verwenden, sondern „Programm zur Aufnahme von Schutzbedürftigen“ zu sagen. Das entspricht der Wahrheit. Ich empfehle Ihnen auch, nicht den Begriff „Asylzuwanderung“ zu verwenden.

Jetzt noch ein Letztes: In diesem Hause haben Sie ja groß applaudiert, als ich damals – ich erinnere mich noch genau – die Opposition kritisiert habe,

(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Da haben wir groß applaudiert?)

weil sie sehr kritisch war gegenüber Abschiebungen und gleichzeitig unter ihrer Beteiligung Abschiebungen in einzelnen Ländern stattgefunden haben. Wenn Sie das aber kritisieren, was ist dann mit Ihnen? Die NRW-Landesregierung hat mit Vorgriffsregelungen, mit Erlassen, mit diversen Maßnahmen unter einem CDU-Ministerpräsidenten bereits in den letzten Jahren Schritte genau hin zu einem Chancen-Aufenthalt eingeleitet und hat es im Koalitionsvertrag festgehalten. Ihre eigenen Leute im größten Bundesland, in dem Land mit den meisten Geflüchteten, vertreten eine Politik, die wir umsetzen. Was Sie hier betreiben, ist unredlich und es ist doppelmoralisch. Das ist zu benennen.

(Andrea Lindholz [CDU/CSU]: So ein Quatsch!)

Ich wette, dass nicht wenige aus Ihren Reihen das genauso sehen wie wir. Das sah man ja auch an diversen prominenten Enthaltungen im Zusammenhang mit dem Gesetz zum Chancen-Aufenthaltsrecht.

Also: Täuschen Sie nicht weiter! Benennen Sie Tatsachen, und benennen Sie die Verantwortung da, wo sie ist! Wir machen Ihre Anschein-Erweckungspolitik nicht mehr mit.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Thorsten Frei [CDU/CSU]: Was für ein Witzbold!)

Das Wort hat die Kollegin Andrea Lindholz für die CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7551280
Wahlperiode 20
Sitzung 88
Tagesordnungspunkt Migrationspolitischer Sonderweg in Europa
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