02.03.2023 | Deutscher Bundestag / 20. WP / Sitzung 88 / Tagesordnungspunkt 12

Katrin Helling-PlahrFDP - Überlastung der Ziviljustiz - Bewältigung von Massenverfahren

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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Dass wir heute über den Umgang mit zivilrechtlichen Massenverfahren debattieren, ist berechtigt; denn viele Klagen binden viele Ressourcen. Dieselklagen, Fluggastrechteverfahren oder Schadensersatzforderungen in Kapitalanlageverfahren schlagen bei Gerichten massenweise auf: immer wieder fast oder vollumfänglich gleiche Sachverhalte, immer wieder im Prinzip dieselben Ansprüche. Wenn die Parteien Legal Tech nutzen oder schlicht im Spezialgebiet besonders profilierte Kanzleien am Werk sind, sind es auch die immer gleichen Schriftsätze. Wenn es komplexe Rechtsfragen gibt, die einer höchstrichterlichen Klärung bedürfen, dauert das oft einfach lange.

Man denke zum Beispiel an die Frage, was eigentlich passiert, wenn ein vom Dieselskandal betroffenes Kfz während des Prozesses verkauft worden ist. Im Prinzip kann der Käufer vom Verkäufer die Rückabwicklung des Kaufvertrages verlangen, also die Erstattung des Kaufpreises, aber Zug um Zug gegen Rückgabe des Kfz. Das hat er aber nun nicht mehr. Da sagte nun das OLG Schleswig: Schadensersatz gibt es erst einmal nicht bzw. nur dann, wenn der Käufer beweisen kann, dass er beim Weiterverkauf wegen der Betroffenheit vom Dieselskandal einen Mindererlös erzielt hat. – Das OLG Oldenburg meinte, Schadensersatz in Höhe des ursprünglich gezahlten Kaufpreises minus später erzieltem Wiederverkaufserlös gebe es schon. Das ist doch kaum vermittelbar. Selbe Konstellation, 280 Kilometer weiter, völlig unterschiedliche Rechtsprechung, und das bei gleicher Gesetzeslage. Irgendwann hat der BGH entschieden; aber wenn sich die Parteien doch noch geeinigt hätten oder das Verfahren aus anderen Gründen ohne Urteilsspruch abgeschlossen worden wäre, wäre die Rechtsfrage wieder nicht geklärt gewesen. Es ist klar, dass hier Handlungsbedarf besteht.

Aber, liebe Kollegen von der Union, wenn Sie die Bundesregierung nun auffordern, Instrumente zu prüfen, wie für Massenverfahren relevante Rechtsfragen in Zukunft schneller höchstrichterlich geklärt werden können, spielen Sie mit der Koalition und der Bundesregierung nicht mehr als Hase und Igel: Sie der Hase, wir der Igel.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Sie kennen die Geschichte: Der Igel ist immer zuerst im Ziel, und der Hase steht ziemlich blöd da. Liebe Kolleginnen und Kollegen, natürlich hat eine solche Prüfung im Justizministerium bereits stattgefunden. Auch wir diskutieren das Thema innerhalb der Koalition intensiv.

(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Immerhin!)

„Vorabentscheidungsverfahren“ klingt ja gut, liebe Union. Aber wie verhindern wir, dass der BGH dadurch arbeitsunfähig wird? Wenn Massenverfahren nun massenweise dem BGH zugeleitet werden, ist doch niemandem gedient. Damit verschiebt man doch nur Probleme.

Besser ist es, wenn wir erst einmal der Idee der Leitentscheidung nähertreten: Der BGH kann dann Revisionsverfahren zu Leitentscheidungsverfahren bestimmen, wenn die Entscheidung für eine Vielzahl von weiteren Verfahren von Bedeutung ist. Die weiteren Verfahren mit gleicher Problematik können ausgesetzt werden, bis der BGH entschieden hat.

(Dr. Martin Plum [CDU/CSU]: Können sie nicht! Das ist falsch!)

Auch wenn das Revisionsverfahren von den Parteien nicht fortgeführt wird, kann der BGH in einer Leitentscheidung zur maßgeblichen Rechtsfrage ausführen. Das lässt Gerichte effektiver arbeiten und stellt eine frühere und breitere Einheitlichkeit der Rechtsprechung sicher. Das stärkt Vertrauen in den Rechtsstaat. Denn das sollten Sie sich, werte Unionsfraktion, wenn ich Ihren Antrag so lese, deutlich vor Augen führen: Effektiv arbeitende Gerichte brauchen wir nicht um ihrer selbst willen. Nur ein Rechtsstaat, dem die Menschen vertrauen, ist ein starker Rechtsstaat.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das erfordert auch, dass Prozesse transparent geführt werden und zu für die Parteien nachvollziehbaren Ergebnissen gelangen. Dazu, liebe Union, sind viele Vorschläge aus Ihrem vorgelegten Antrag absolut kontraproduktiv: Beweisaufnahmen aus anderen Fällen über die bestehende Möglichkeit des § 411a ZPO bei Sachverständigengutachten hinaus beiziehen, Entscheidungen im schriftlichen Verfahren, ohne dass die Parteien damit einverstanden sind, nach Gutdünken des Gerichts – der Unmittelbarkeitsgrundsatz ist Ihnen offenbar genauso wenig wert wie die Dispositionsmaxime. Nicht mit uns! Strukturierter Parteivortrag ist ein extrem schmaler Grat und die Anwaltschaft mit einer Maximalseitenzahl für ihren Vortrag gängeln zu wollen, ist auch kein Zukunftsprojekt.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Entsprechend sortieren kann dann KI. Die Chancen müssen wir nutzen. Kurzum: Wir haben die besseren Ideen zum Umgang mit zivilgerichtlichen Massenverfahren.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort Dr. Martin Plum.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7551381
Wahlperiode 20
Sitzung 88
Tagesordnungspunkt Überlastung der Ziviljustiz - Bewältigung von Massenverfahren
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