17.03.2023 | Deutscher Bundestag / 20. WP / Sitzung 92 / Zusatzpunkt 9

Konstantin KuhleFDP - Änderung des Bundeswahlgesetzes

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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eines der wichtigsten Merkmale der Demokratie ist die Fähigkeit zur Selbstkorrektur. Mit der heutigen Reform zeigt der Deutsche Bundestag die Fähigkeit, eine Entwicklung zu korrigieren, die in den vergangenen Jahren bei vielen Menschen in diesem Land für großes Unverständnis gesorgt hat, und das ist die immer weiter gehende Vergrößerung des Parlaments.

(Beifall bei der FDP, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es hat in den vergangenen Jahren viele Anläufe für Wahlrechtsreformen gegeben. Manche sind schon im Entwurfsstadium stecken geblieben, andere sind auf den letzten Metern gescheitert. Ich bin froh und dankbar, dass diese Koalition den Mut und die Kraft hat, über eine Wahlrechtsreform nicht nur zu diskutieren, sondern sie am heutigen Tag auch zu beschließen, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der FDP, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: Egal ob sie verfassungswidrig ist oder nicht, oder wie?)

Unser Land geht durch eine schwierige Zeit. Es wütet ein Krieg mitten in Europa. Die Menschen machen sich Sorgen um ihre Zukunft, um die Krisen, um die Inflation, um die Bezahlbarkeit der Energie. Gleichzeitig durchläuft die Gesellschaft, durchläuft der Staat, durchlaufen wir alle unglaubliche Transformationsprozesse. Und in dieser Zeit verlangt die Politik den Menschen unglaublich viel ab. Der Deutsche Bundestag zeigt heute, dass er bei Reformen nicht nur den Menschen in diesem Land etwas abverlangt, sondern dass er auch in der Lage ist, sich selbst zu reformieren.

(Beifall bei der FDP, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: Jetzt mal konkret zum Wahlrecht!)

Deswegen ist der heutige Tag auch ein Zeichen für die Reformfähigkeit unseres Landes insgesamt. Wir gehen heute mit gutem Beispiel voran, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: Das ist aber jetzt selbst für Sie wirklich peinlich!)

Das Herzstück der Reform ist das sogenannte Prinzip der Zweitstimmendeckung. Bereits heute wird die Zusammensetzung des Bundestages im Wesentlichen nach dem Zweitstimmenergebnis bestimmt. Daran ändert sich nichts, und deswegen ist es auch richtig, an der bewährten Bezeichnung „Erst- und Zweitstimme“ festzuhalten. Auch künftig bemisst sich die Stärke der Fraktionen im Deutschen Bundestag nämlich nach dem Ergebnis der Zweitstimmen.

Bisher ist es so: Erlangt eine Partei in mehr Wahlkreisen die meisten Erststimmen, als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis Mandate zustehen, so kommen diese zusätzlichen Mandate als Überhangmandate zur Regelgröße des Bundestages hinzu. Damit die Größe bzw. die Zusammensetzung des Bundestages wieder dem Zweitstimmenergebnis entspricht, müssen Ausgleichsmandate an die anderen Fraktionen verteilt werden. So wird der Bundestag immer größer und größer.

Das ändern wir künftig – das ist der zentrale Punkt dieser Reform –: Künftig können nur so viele Abgeordnete für eine Partei in den Bundestag einziehen, wie Zweitstimmenmandate zur Verfügung stehen. Die Erststimmenbewerber mit den relativ geringsten Ergebnissen in einem Land erringen das Wahlkreismandat nicht.

(Beatrix von Storch [AfD]: Wer hat’s erfunden?)

An der Stelle wird es wirklich wichtig – das ist ein wichtiger Punkt –: Es gibt nämlich keinen naturrechtlichen und auch keinen verfassungsrechtlichen Anspruch auf ein Wahlkreismandat, sondern das Erlangen des Wahlkreismandats hängt davon ab, wie das Wahlrecht ausgestaltet ist.

(Beifall bei der FDP, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zurufe von der CDU/CSU und der LINKEN)

Das ist ja gerade die Frage dabei. Künftig tritt neben das Kriterium der meisten Stimmen in einem Wahlkreis eben das Kriterium der Zweitstimmendeckung.

(Stephan Brandner [AfD]: Wie viele Direktmandate hat denn die FDP, Herr Kuhle? Sagen Sie mal was dazu!)

Wir haben, liebe Kolleginnen und Kollegen, in den vergangenen Wochen und Monaten vielen Expertinnen und Experten und auch der Opposition gut zugehört.

(Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: Warum haben Sie dann Mist gebaut, wenn Sie zugehört haben?)

Deswegen ist es heute unser Anliegen, das Nichterlangen eines Wahlkreismandats weniger wahrscheinlich zu machen

(Stephan Brandner [AfD]: Na, bei Ihnen ist es unmöglich! Die FDP hat noch nie eins gewonnen!)

und damit auch der Union die Möglichkeit zu geben, heute für diesen Gesetzentwurf zu stimmen.

(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das erreichen wir nämlich, indem wir eine Anregung aus dem Antrag, den Sie eingebracht haben, in unser Gesetz integrieren,

(Beifall bei Abgeordneten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Christian Dürr [FDP]: So ist es! – Thorsten Frei [CDU/CSU]: Nämlich?)

und das ist die Verschiebung des Verhältnisses zwischen Wahlkreis- und Listenmandaten. Die neue Regelgröße von 630 Sitzen bei gleichzeitiger Beibehaltung der Wahlkreiszahl von 299 macht es nämlich weniger wahrscheinlich, dass Wahlkreismandate nicht erlangt werden. Eines ist aber klar: Nach der Wahl sind es dann auch 630. Deswegen sorgt dieses Wahlrecht für Verlässlichkeit und für Vorhersehbarkeit, und deswegen ist es gut, dass wir das heute auf den Weg bringen, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der FDP, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Herr Kuhle, gestatten Sie eine Zwischenfrage oder ‑bemerkung von Herrn Farle?

Nein.

Der zweite Knackpunkt der vergangenen Wochen war immer der Fortbestand der Grundmandatsklausel. Lieber Herr Dobrindt, wir können uns jetzt hier gegenseitig Zitate vorlesen – ich könnte Ihnen ja mal die Zitate der Unionssachverständigen vorlesen, die allesamt gesagt haben, dass die Grundmandatsklausel verfassungswidrig ist –,

(Zuruf des Abg. Alexander Dobrindt [CDU/CSU])

aber am Ende ist es doch so, dass man eine politische Entscheidung treffen muss und dass man für diese politische Entscheidung auch geradestehen muss.

(Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: Ja, vorm Verfassungsgericht!)

Ich sage Ihnen was: Nach unserer Anhörung bin ich der Auffassung, dass der Verzicht auf eine Grundmandatsklausel im neuen Wahlrecht mit weniger verfassungsrechtlichen Risiken behaftet ist,

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

als es die Einführung einer neuen Grundmandatsklausel gewesen wäre. Aus diesem Grund – und aus keinem anderen – ändern wir das Wahlgesetz mit dem vorliegenden Gesetz.

(Beifall bei der FDP, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf der Abg. Amira Mohamed Ali [DIE LINKE])

Dabei geht es auch nicht um die CSU. Es ist doch interessant, zu beobachten, dass jede Wahlrechtsdiskussion in Deutschland ihren Endpunkt bei der CSU erreicht.

(Beifall bei der FDP, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Christian Dürr [FDP]: So ist es!)

Die CSU hat es geschafft: Die CSU bestimmt jede Wahlrechtsdebatte. Die CSU macht aus jeder Diskussion über die Verkleinerung des Deutschen Bundestages eine Diskussion über die CSU. Aber ich will Ihnen eines sagen: Sie müssen damit klarkommen, dass es auf der Welt und in diesem Land auch mal einen einzigen Tag gibt, an dem es nicht um die CSU geht, sondern um dieses Land. Und heute ist dieser Tag – der Tag, an dem der Deutsche Bundestag zukünftig verkleinert wird.

(Lebhafter Beifall bei der FDP, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: So ein dummes, selbstgerechtes Geschwätz! Arrogant bis zum Gehtnichtmehr, das ist diese Ampel! Arroganz der Macht! Ich gratuliere dazu! – Zuruf der Abg. Amira Mohamed Ali [DIE LINKE])

Die CSU hat Norbert Lammert die Wahlrechtsreform versaut, die CSU hat Wolfgang Schäuble die Wahlrechtsreform versaut, aber die CSU wird nicht die Wahlrechtsreform der Ampel versauen. Das lassen wir nicht zu.

(Beifall bei der FDP, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Nina Warken [CDU/CSU]: Das machen Sie ja schon selber!)

Meine Damen und Herren, meine Fraktion versteht sich als Anwalt der Menschen,

(Lachen bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der AfD – Amira Mohamed Ali [DIE LINKE]: Eher Anwalt der Reichen!)

die kein Verständnis für die ewigen Ausreden haben, warum eine Verkleinerung des Bundestages auf den letzten Metern scheitert. Aber ich will Ihnen auch sagen – letzter Punkt –: Meine Fraktion hat null Interesse daran, dass wir künftig nach jeder Bundestagswahl das Wahlrecht ändern.

(Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Das wird passieren! – Jessica Tatti [DIE LINKE]: Genau das wird passieren! – Friedrich Merz [CDU/CSU]: Das werden Sie aber genau so auslösen!)

Deswegen: Lassen Sie uns heute gemeinsam die Grundentscheidung für eine Verkleinerung des Bundestages treffen, und lassen Sie uns gerne gemeinsam auf dieser Grundlage weiter miteinander sprechen, so wie es sich unter Demokraten gehört. Ich werbe um Zustimmung.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: Unglaublich arrogante Rede!)

Bevor ich den nächsten Redner aufrufe, hat das Wort zu einer Kurzintervention der Abgeordnete Farle.

(Zurufe: Oh! – Dr. Jens Zimmermann [SPD]: Um Gottes willen!)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7551942
Wahlperiode 20
Sitzung 92
Tagesordnungspunkt Änderung des Bundeswahlgesetzes
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