29.03.2023 | Deutscher Bundestag / 20. WP / Sitzung 93 / Zusatzpunkt 1

Marie-Agnes Strack-ZimmermannFDP - Aktuelle Stunde: Ein Jahr nach Bucha - für Gedenken und strafrechtliche Aufarbeitung

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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Butscha: 35 000 Einwohner, 25 Kilometer nordwestlich von Kiew gelegen, ein beschaulicher Vorort. Diese Stadt dürfte, wie hier schon erwähnt, so gut wie keiner außerhalb der Ukraine vorher gekannt haben – bis zu dem Augenblick, an dem dort 458 tote Ukrainerinnen und Ukrainer gefunden wurden, ermordet von russischen Besatzern. Eine verwackelte Handyaufnahme eines der Überlebenden ging um die Welt: Menschen, mit den Händen auf dem Rücken gefesselt, liegen ermordet auf der Straße.

Das Genfer Abkommen aus dem Jahre 1949 regelt, dass auch im bewaffneten Konflikt Zivilisten und unbewaffnete Soldaten – Zitat – „unter allen Umständen mit Menschlichkeit behandelt werden“ müssen. Russland tritt diese Konvention genauso in die Tonne wie die Vereinten Nationen und das ganze Völkerrecht.

Meine Damen und Herren, im Dezember lernte ich in Hamburg Hanna Polonska kennen – 33 Jahre jung, Deutschlehrerin. Sie lebte in Butscha mit ihrem Mann und war im fünften Monat schwanger. Als sie das Haus verließen, wurde ihr als Zivilfahrzeug gekennzeichnetes Auto massiv beschossen. Ihr Mann war sofort tot, die hochschwangere junge Frau schwerstverletzt. Sie verlor ihr ungeborenes Kind. Sie kämpft sich bis heute zurück, und sie sagte mir, dass sie nie wieder nach Butscha zurückwolle. Das sei dort die schönste Zeit ihres Lebens gewesen, an die sie sich so erinnern wolle.

Ihre Geschichte, meine Damen und Herren, steht für die von Zigtausenden von Menschen in der Ukraine, die unfassbare Grausamkeiten erleiden müssen und dennoch oder gerade deshalb ihr Land verteidigen. Das ist kein abstraktes Leid, das ist die brutale Realität, über die wir immer wieder sprechen müssen. Deswegen ist es auch sehr gut, dass es diese Aktuelle Stunde heute gibt.

(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Auch diejenigen, meine Damen und Herren, die diese Verbrechen dokumentieren und Beweise sichern, um eine zukünftige juristische Aufarbeitung dieser Kriegsverbrechen vor Gericht möglich zu machen, tragen zur Erinnerung bei.

In den vergangenen Wochen hatte ich zudem die Ehre, die Notfallsanitäterin Julija Pajewska in Düsseldorf kennen zu lernen. Sie hat mit einer Bodycam festgehalten, was sie bei ihrem Einsatz in Mariupol erleben musste. Sie machte diese Aufnahmen für die Welt sichtbar, bevor sie Mitte Mai für Monate in russische Kriegsgefangenschaft geriet, weil es ihr gelang, einem Journalisten einer Agentur rechtzeitig den Datenstick zukommen zu lassen.

Meine Damen und Herren, ja, Butscha ist das Synonym für andere Städte, für die brutale russische Willkür geworden, und es zeigt uns, dass der Vormarsch russischer Streitkräfte nicht bloß ein Verschieben der Markierung auf der Landkarte ist, sondern die russischen Streitkräfte den Befehl haben, die Ukraine komplett auszulöschen. Der Ruf nach Diplomatie, nach Friedensverhandlungen mag verständlich sein. Er entspringt der zivilen, der humanitären Vorstellung, Streit und Feindschaft diplomatisch lösen zu können. Was aber tun, wenn man nicht auf ein zivilisiertes Gegenüber trifft, wenn man vor einem Ungeheuer steht, welches nur Atem holen will, um dann das Grauen fortzusetzen?

Meine Damen und Herren, die Ukraine setzt sich zur Wehr und kämpft, so wie wir es auch täten. Diesen Kampf führt die Ukraine, weil es zwischen Mördern und ihren Opfern und den Hinterbliebenen der Opfer keinen Kompromiss geben kann.

(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Das völkerrechtswidrig besetzte ukrainische Staatsgebiet kann daher auch nie allen Ernstes Verhandlungsmasse sein. Wir tun gut daran, im Namen von Demokratie und Freiheit die Ukraine weiter zu unterstützen.

Es ist gut und konsequent, dass neben wirtschaftlicher und humanitärer Hilfe auch schwere Waffen geliefert werden, und es ist gut, dass der Kampfpanzer Leopard jetzt in die Ukraine verlegt worden ist. Deshalb erhöhen wir auch den Ansatz für die materielle Unterstützung der Ukraine aus den Beständen der Bundeswehr und die entsprechende Ersatzbeschaffung in diesem Jahr auf 3,2 Milliarden Euro und in den Folgejahren auf 12 Milliarden Euro. Das ist ein wichtiges Zeichen an die Ukraine, an unsere Partner in Europa, an die NATO und auch an die Bundeswehr, die aus ihrem Bestand Material zur Verfügung stellt.

Abschließend: Ein schlimmes Zeichen – und das gehört auch zur heutigen Debatte – ist die Haltung des Internationalen Olympischen Komitees.

(Zurufe von der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Ja!)

Machen wir uns nichts vor: Der internationale Sport ist schon längst seiner unschuldigen Funktion zur Völkerverständigung beraubt worden.

(Michael Brand [Fulda] [CDU/CSU]: Eine Schande!)

Die gestrige Entscheidung, Russen und Belarussen wieder an sportlichen Großereignissen im Vorfeld der Olympischen Spiele zuzulassen, ist eine Verhöhnung der Opfer

(Beifall bei der FDP, der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der AfD)

und führt die olympische Idee ad absurdum, in deren Statuten von gegenseitiger Achtung gesprochen wird. Russland nutzt den Sport und die Deutungshoheit auch über diesen grausamen Angriff hinaus, meine Damen und Herren. Das IOC schaut dabei offensichtlich ins Leere, ohne Rückgrat, unter der Führung eines ehemaligen deutschen Spitzensportlers. Das ist mehr als peinlich. Das ist erbärmlich, das ist einfach nur grauenvoll.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP, der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Kathrin Vogler hat das Wort für die Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7552121
Wahlperiode 20
Sitzung 93
Tagesordnungspunkt Aktuelle Stunde: Ein Jahr nach Bucha - für Gedenken und strafrechtliche Aufarbeitung
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