Helge LindhSPD - Ausreisepflichten im Asylrecht
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In einer Facharbeitsgruppe zu Migration haben wir ein gewisses Spiel: Wir raten, welche Antragstitel welchen Fraktionen zuzuordnen sind. In jüngster Zeit verwechseln wir dabei auffallend häufig AfD und CDU/CSU.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Julian Pahlke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] und Clara Bünger [DIE LINKE] – Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Nicht nur das: Der bei der AfD ja sehr beliebte Verweis auf Helmut Schmidt wird jetzt auch von Ihnen kopiert. Ich würde mir überlegen, ob das ein sinnvoller Erfolgsweg ist.
Sie treten im Gestus des Vorwurfs und der Anklage gegen die Bundesregierung auf, sozusagen: Ich klage an. – Ich drehe aber den Spieß mal um und sage meinerseits: Ich klage an. – Denn wenn Sie die Durchsetzung des Rechtsstaates einfordern, dann gilt das ja wohl auch für geflüchtete und geduldete Menschen.
Ein gutes Stichwort ist Gütersloh. Dort wurde am 8. März 2023 vom Verwaltungsgericht Minden entschieden, dass aufgrund eines Asylfolgeantrags von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen, also Abschiebung, abzusehen sei. Davon informierte das Gericht umgehend den Kreis Gütersloh. Auch der Rechtsanwalt des Betroffenen informierte den Kreis. Gleichwohl wurde am Folgetag mit diesem Wissen eine Abschiebung initiiert und nur durch Zufall auf dem Weg zum Flugzeug noch gestoppt.
Jetzt kommt die lehrreiche Folgegeschichte: Die Verantwortung dafür wollte der Landkreis – Landrat Adenauer, CDU – dem BMI zuschieben. Man habe auf eine Information durch die Behörde, das BAMF, gewartet, und die sei ja erst viel zu spät – um 12.30 Uhr –, als man längst auf dem Weg war, erfolgt. Nun liegt aber eine dem fundamental widersprechende Stellungnahme an das „Haller Kreisblatt“ und auch an die „Neue Westfälische“ vor, in dem das BAMF Folgendes klarstellt: Am frühen Morgen des Tages wurde telefonisch informiert. Um 09.43 Uhr des Tages informierte das BAMF förmlich korrekt schriftlich über diesen positiv ausgefallenen Eilantrag und verwies dann noch um 10.55 Uhr des Tages darauf,
(Alexander Throm [CDU/CSU]: Der Mensch hat deutlich zu viel Redezeit!)
dass man weiterhin das Vorliegen der Bedingungen und Voraussetzungen für ein mögliches neues Verfahren prüfe.
Was ist nun die bittere Pointe dessen? Das BAMF stellt darin ausdrücklich fest, dass dieser Abschiebungsversuch aus doppeltem Grund gar nicht hätte stattfinden dürfen: a) wurde der Gerichtsentscheid nicht entsprechend beachtet, b) war es in dem Fall ungeachtet eines gerichtlichen Entscheides überhaupt nicht zulässig, eine Abschiebung zu initiieren, weil erst eine Information, eine Mitteilung des BAMF, abgewartet werden muss, ob die Voraussetzungen für ein Asylfolgeverfahren vorliegen. Bis dahin ist ein absolutes – ich wiederhole: absolutes! – Abschiebungshindernis gegeben. Dass dies im Kreis Gütersloh passiert ist, ist aber kein Zufall. Denn es entspricht einer dortigen Strategie, mit Abschiebungen Härte zu zeigen. Und es gab weitere Fälle. Es gibt Fälle von Personen mit geistiger Behinderung – ein Mann, erwachsen, der wegen Suizidgefahr fünfmal stationär in der LWL-Klinik behandelt wurde – und von bestens integrierten, in Deutschland geborenen jungen Menschen.
Ich sage Ihnen: Wenn Sie wirklich dieser Schimäre einer erzwungenen massenhaften Abschiebung, die völlig unrealistisch ist, folgen wollen, wird das Ergebnis sein, dass Gütersloh zum Normalfall wird.
(Zuruf von der AfD: Sehr gut!)
Und wir als Koalition werden alles dafür tun, dass dies nicht erfolgt.
Herr Kollege Lindh, erlauben Sie eine Zwischenfrage von Herrn de Vries?
Selbstverständlich. Ich freue mich über die Verlängerung meiner Redezeit.
(Zuruf von der CDU/CSU: Na toll, da brockst du uns was ein!)
Das freut vielleicht nicht alle. – Aber erst mal herzlichen Glückwunsch zum Sakko!
(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und der AfD – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sehen heute auch ganz komisch aus! – Weiterer Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Das ist nur Neid!)
Ich will jetzt meine Frage stellen. Wir haben ja im letzten Jahr quasi einen Anstieg der Asylerstanträge um 50 Prozent gehabt, die Rückführungen aber sind auch im Vergleich zu der Zeit vor Corona um 40 Prozent zurückgegangen. Kann ich Sie jetzt so verstehen, dass Sie der Meinung sind, dass wir zu viele Abschiebungen in Deutschland haben und dass wir die Abschiebepraxis weiterhin aufweichen sollten und die Ausreisepflichten noch weniger durchsetzen sollten, als wir das bisher getan haben?
Vielen Dank.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Herzlichen Dank für die Frage, auf die ich erst mal eingehen will. Nicht nur sind die Antragstitel zu verwechseln, es gibt auch diesen notorischen und notorisch falsch liegenden Verweis auf Helmut Schmidt oder Herbert Wehner; das ist ein klassischer rechtspopulistischer Topos.
(Lachen bei Abgeordneten der AfD)
Auch die Hinweise auf mein Sakko kenne ich aus rechtspopulistischen Rechtsaußenkreisen.
(Lachen bei Abgeordneten der AfD und des Abg. Christoph de Vries [CDU/CSU])
Also auch da kopieren Sie das. Suchen Sie sich doch mal andere Originale und Vorbilder!
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Aber ich werte das als Kompliment. Ich werde mir zehn Sakkos dieser Art zulegen, um Ihnen Freude zu machen.
(Heiterkeit und Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP – Christoph de Vries [CDU/CSU]: So war es auch gemeint!)
Und wir raten dann, welche Farbe ich das nächste Mal wähle. Ich nenne es das „de-Vries’sche Sakko“.
(Heiterkeit bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Jetzt zu Ihrer Frage. Die Antwort lautet Nein. Das ist ja immer Ihr Problem; vielleicht ist es auch eine kognitive Überforderung. Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie sich gemeldet haben. Es kann nicht sein, dass Sie „Recht muss gelten; der Rechtsstaat muss funktionieren“ einfordern und umgekehrt der Rechtsstaat nicht gilt und einfach abgeschoben wird, wenn es eindeutig widerrechtlich ist. Das habe ich mit meinem Beispiel ausgeführt. Mit keinem Wort habe ich gesagt, es solle keine Abschiebungen geben. Da zeigt sich aber, dass Sie offensichtlich einer gewissen ideologischen Verblendung erlegen sind.
(Lachen bei Abgeordneten der AfD)
Ich habe festgestellt und ausgeführt, dass Rechtsstaat bedeutet: konsequente Umsetzung der Gesetze inklusive der Nutzung der Möglichkeiten, Rechtsmittel einzulegen. Ein geduldeter Mensch hat nun mal das Recht, das zu tun.
Ihre Redezeit läuft wieder.
Die Landesregierung NRW, die uns ausdrücklich auffordert, alle Möglichkeiten des Bleiberechts für gut Integrierte auszuschöpfen, hat das verstanden. Das heißt, wir vollziehen die Wünsche der Landesregierung, geführt von Herrn Wüst. Sie sollten uns dankbar sein. Und wir haben dann auch noch Herrn Stamp, der vorher in der schwarz-gelben Regierung tätig war und von Herrn Laschet und auch Herrn Wüst voll und ganz unterstützt wurde, zum Migrationsbeauftragten gemacht. Sie müssten uns gratulieren.
Was Sie aber nicht verstanden haben, ist, dass es uns um Pragmatismus geht und nicht um Scheinpolitik. Niemals – niemals! – ist es sinnhaft oder machbar oder realistisch, mehrere Hunderttausende von Ausreisepflichtigen auszuweisen; das glaubt doch kein Mensch in diesem Raum. Wir konzentrieren uns auf Gefährder und Straftäter, und dies nach Recht und Gesetz. Und wir setzen auf Migrationsabkommen. Migrationsabkommen bedeuten aber nicht, was Sie fordern, nämlich Streichung von Entwicklungshilfe, Wirtschaftssanktionen. Reale, faire Abkommen bedeuten: Abkommen auf Augenhöhe.
(Zuruf von der AfD: Schrei doch nicht so!)
Denn nur solche Abkommen, nur solche, die eben nicht kolonialistisch geprägt sind, die nicht von dem Prinzip „Friss oder stirb!“ geprägt sind, werden funktionieren. Das ist genau unser Ansatz; das ist der Stamp’sche Ansatz:
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der FDP)
faire Abkommen, Reduktion irregulärer Migration, ein strategisches Verständnis von Abschiebung. Das haben Sie aber, glaube ich, nicht verstanden. Und Sie haben auch nicht verstanden, was Herr Sommer, ehemals Büroleiter von Edmund Stoiber, jetzt an der Spitze des BAMF, sagt. Er sagt nämlich: keine anlasslosen Widerrufsprüfungen. – Sie fordern jetzt die Wiedereinführung anlassloser Widerrufsprüfungen. Sie hören nicht auf Herrn Knaus, der Sie in der Anhörung diesen Montag mit seinen Positionen zerlegt hat, –
Kommen Sie bitte zum Schluss.
– mit Verweis auf die Situation in Österreich. Und Sie widersprechen – das wissen Sie genau; die Betreffenden sind gerade nicht hier – Ihrer eigenen Landesregierung im größten Bundesland Deutschlands; die sieht das genauso wie wir.
Herr Lindh, letzter Satz, bitte.
Also: Hören Sie auf mit dieser Doppelstimmigkeit, und klären Sie die Widersprüche in Ihren Reihen, aber hören Sie auf mit solchen Scheinerweckungsanträgen!
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)
Ich möchte noch mal darauf hinweisen, dass Sie Ihre Stimme in der namentlichen Abstimmung – sie ist noch drei bis vier Minuten geöffnet – noch abgeben können, wenn Sie das bis jetzt noch nicht getan haben. Nach dem nächsten Redner schließe ich die namentliche Abstimmung.
Der nächste Redner: für die AfD-Fraktion Dr. Curio.
(Beifall bei der AfD)
Source | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Cite as | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Retrieved from | http://dbtg.tv/fvid/7552148 |
Electoral Period | 20 |
Session | 93 |
Agenda Item | Ausreisepflichten im Asylrecht |