30.03.2023 | Deutscher Bundestag / 20. WP / Sitzung 94 / Zusatzpunkt 4

Sebastian FiedlerSPD - Bekämpfung von schwerer Kinderkriminalität

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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Ich bin einigermaßen froh, dass der Rechtsstaat funktioniert und dass mein Vorredner nicht mehr als Staatsanwalt tätig sein darf.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Ich finde es beschämend, bedrückend und auch unerträglich, dass möglicherweise jetzt Opferfamilien zuhören, die in Freudenberg im Kreis Siegen-Wittgenstein natürlich immer noch unter diesem schrecklichen Fall zu leiden haben. Ich glaube, sie werden sich eins nicht wünschen: dass die rechtsextreme AfD diesen Fall nutzt, um zu versuchen, rechtsextremes Kapital daraus zu schlagen. Sie sollten sich schämen.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Enrico Komning [AfD]: Was soll denn daran rechtsextrem sein? So ein Blödsinn! – Beatrix von Storch [AfD]: Widerwärtig!)

– Bei anderer Gelegenheit erklärte ich Ihnen oft genug, warum Sie rechtsextrem sind. Lesen Sie sich das mal durch!

Was Sie in Ihrem Gesetzentwurf machen, will ich noch mal den Interessierten erläutern. Sie suchen sich drei Fälle heraus, die allesamt für sich wirklich fürchterlich sind: einen Fall aus 2023 – über den haben wir gerade gesprochen –, einen aus 2019, einen aus 2022.

(Beatrix von Storch [AfD]: Scheint Sie ja nicht zu stören!)

Dann suchen Sie sich die Statistik aus 2021 heraus, mischen die gesamte Straftatenpalette von unter 6-Jährigen, von 6- bis 8-Jährigen, von 8- bis 10-Jährigen, 10- bis 12-Jährigen, 12- bis 14-Jährigen zusammen und ziehen daraus die Schlussfolgerung, dass solche fürchterlichen Taten mehr oder weniger an der Tagesordnung sind. Ihr Gesetzentwurf gipfelt darin, dass Sie die strafrechtliche Situation in Großbritannien nutzen, wo 10-Jährige lebenslang in Haft gehen. Das ist Ihre Politik.

(Enrico Komning [AfD]: Das ist bestimmt rechtsextrem!)

Das müssen wir uns auf der Zunge zergehen lassen. Herzlichen Glückwunsch! Das wollen wir nicht, und zwar in keiner Hinsicht.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der FDP und der LINKEN – Beatrix von Storch [AfD]: Man muss sich entscheiden: Täterschutz oder Opferschutz!)

Was wir wollen und was geboten ist, hat unsere Bundesinnenministerin gemacht, hat der Präsident des Bundeskriminalamtes gemacht. Er hat sich die Zahlen sehr genau angeguckt, die wir heute zur Kenntnis genommen haben. Man muss tatsächlich sehen: Die Polizeiliche Kriminalstatistik gehört seit vielen Jahren zu den am meisten missbrauchten Statistiken Deutschlands. Ein Beispiel dafür haben wir heute schon erlebt. Man muss sich die Mühe machen, genau hinzuschauen; das ist auch für Profis anstrengend. Das muss ich Ihnen zumuten.

(Zuruf von der AfD: Arrogante Rede!)

Natürlich ist es so – das hat der BKA-Präsident richtig gesagt, und das gehört dazu –: Im letzten Jahr sind 1,4 Millionen Menschen zu uns gekommen. Ein Teil davon ist, egal wo auf der Erde, natürlich immer kriminell. Das lässt sich erklären.

(Beatrix von Storch [AfD]: Das ist okay, nicht?)

Gucken wir aber die Zahlenreihen über einen langen Zeitraum an! Im Jahr 2001 hatten wir noch viel höhere Zahlen. Nachdem dann die Zahlen gesunken sind, haben wir nun zu erläutern, warum die Zahlen wieder steigen. Da müssen wir ernsthaft hingucken und müssen uns dann die Frage stellen, welche Stellschrauben wir drehen können, um tatsächlich etwas zum Besseren zu bewirken. Eine Stellschraube ist jedenfalls keine geeignete – darin sind sich nicht nur wir, sondern auch viele andere europäische Länder, viele Juristinnen und Juristen einig; ich hatte gestern beim Richterbund den Eindruck, dass da unsere Einschätzung geteilt wird –: Ein untaugliches Mittel, mit solchen Fällen umzugehen, ist die Absenkung der Strafmündigkeit. Darin sind wir uns jedenfalls in unserer Fraktion ziemlich einig.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Das sehen nicht nur wir so. Sie haben sich einfach ein paar für Sie passende Beispiele herausgesucht; Sie haben aber ein paar andere europäische Staaten vergessen. In Portugal beginnt die Strafmündigkeit ab 16, in Polen ab 17, bei schlimmen Delikten wie Entführungen und Morden ab 15, in Schweden, Finnland, Frankreich ab 15, in Kroatien, Italien, Spanien ab 14 – das sind nur ein paar Beispiele –, und das hat seinen Grund. Der Grund ist, dass schon das Jugendstrafrecht eben nicht den Vergeltungsgedanken, sondern den Erziehungsgedanken, die Idee in sich trägt, Leute wieder zum Besseren zu bewegen.

An dieser Stelle will ich an einem Projekt erläutern, wie das funktionieren kann. Man muss auch mal etwas intensiver über positive Ansätze diskutieren. Wir haben ein ganz gut evaluiertes und erfolgreiches Projekt in Nordrhein-Westfalen. 2011 hat dort der sozialdemokratische Innenminister Ralf Jäger das Projekt „Kurve kriegen“ ins Leben gerufen, das offenbar so gut ist, dass es der nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Reul fortgeführt und ausgebaut hat. In diesem Projekt kümmert man sich schon um Achtjährige und versucht sehr frühzeitig, zu entdecken,

(Enrico Komning [AfD]: Aber das ist doch rechtsextrem!)

wann kriminelle Karrieren entstehen, und zu intervenieren. Dazu gehört folgende Erkenntnis: Man muss wissen, dass auf der einen Seite ein ganz geringer Teil der Jugendlichen und Kinder für einen sehr großen Teil der Straftaten verantwortlich ist. Auf der anderen Seite ist der Normalzustand: Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass über 90 Prozent derjenigen, die hier im Raum sind, früher in ihrer Kindheit oder Jugend Straftaten begangen haben. So ist die Erkenntnislage. Der müssen wir ins Auge gucken.

Aber es gibt Intensivtäter. Das bedeutet: Jemand bis 25 Jahren kann 100 Opfer hinterlassen haben – solche Fälle hat es gegeben –, plus alle Angehörigen. Sozialschäden von 1,7 Millionen Euro – das hat man mal ausgerechnet – können ein solcher Täter bzw. eine solche Täterin verursachen. Deswegen lohnt es sich, da zu investieren. Und das klappt erfolgreich: 40 Prozent der Kinder und Jugendlichen, die an solchen Projekten teilgenommen haben, tauchen bei der Polizei nicht mehr auf. Das ist eine außerordentlich hohe Erfolgsquote. Insoweit müssen wir Projekte befördern, die so erfolgreich sind. Diese unvergleichbaren Projekte sind tatsächliche Lösungsmechanismen.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP – Beatrix von Storch [AfD]: 60 Prozent, bei denen es immer noch nicht klappt!)

Es ist wichtig, sich zu überlegen, wie wir Netzwerke organisieren können, wie wir kompetente Leute gewinnen können, die sich im Umgang mit Kindern und Jugendlichen auskennen, die in den Netzwerken sind, die Kontakte zu Schulen, aber auch zu Justiz und Polizei haben, um dafür zu sorgen, dass frühzeitig kriminelle Karrieren unterbunden werden.

(Beatrix von Storch [AfD]: Und wenn das nicht klappt? Was dann?)

– Der Umstand, dass hier von rechts außen die ganze Zeit reingebrüllt wird, ist ein Zeichen dafür, dass wir richtigliegen.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der FDP und der LINKEN – Fabian Jacobi [AfD]: Lügen Sie doch nicht so!)

Das ist immer ein untrügliches Zeichen: Je lauter es auf der rechten Seite ist, desto höher ist der Wahrheitsgehalt hier am Pult.

(Enrico Komning [AfD]: Dann fragen Sie mal Ihre Kollegen da drüben!)

Das ist zumindest meine Erfahrung nach etwa anderthalb Jahren. Also, brüllen Sie ruhig weiter rein! Lösungen sind von Ihnen nicht zu erwarten.

Was Sie hier machen, will ich am Ende noch mal aufgreifen. Sie versuchen hier tatsächlich wieder, bestimmte Gemütslagen in der Bevölkerung zu befriedigen.

(Enrico Komning [AfD]: Das ist voll rechtsextrem!)

– Das ist rechtsextrem, in der Tat, ja. Das haben Ihnen ja schon viele Leute gesagt.

Das gehört mit zu Ihrem Portfolio. Sie bieten keine Lösungen an, sondern Sie versuchen, bestimmte Stimmungslagen in der Bevölkerung zu befriedigen,

(Beatrix von Storch [AfD]: Herabsenkung der Strafmündigkeit ist die Lösung an der Stelle!)

und das – und dafür sollten Sie sich abgrundtief schämen – auf dem Rücken von Opfern und Opferfamilien. Das ist ekelhaft, widerwärtig, und es gehört nicht in dieses Haus.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der FDP und der LINKEN)

Wir wollen über politische Lösungen diskutieren und den Problemen auf den Grund gehen. Da müssen Sie Differenzierungen aushalten. Das ist für Sie das Allerschwierigste. Wenn Sie keine einfachen Überschriften haben, die schwarz oder weiß sind, dann versagen Sie von vorne bis hinten.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der FDP – Enrico Komning [AfD]: Das ist voll rechtsextrem! – Beatrix von Storch [AfD]: Was sind Sie denn eigentlich für ein Nazi?)

Übrigens: Dass Sie sich trauen, zum Thema Straftaten hier ans Pult zu gehen! Ich weiß gar nicht: Haben wir eigentlich eine Auswertung dazu, welche Fraktion die meisten Vorstrafen in den eigenen Reihen hat?

(Zuruf von der AfD: Hetzer!)

Es wäre wahnsinnig interessant, das zu erfahren. Ich glaube, Sie gewinnen.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der FDP und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7552378
Wahlperiode 20
Sitzung 94
Tagesordnungspunkt Bekämpfung von schwerer Kinderkriminalität
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