Eva Högl - Jahresbericht 2022 der Wehrbeauftragten
Guten Morgen, sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Sehr herzlich danke ich Ihnen, dass Sie die Debatte über den Jahresbericht heute Morgen zur besten Zeit der Sitzungswoche auf die Tagesordnung gesetzt haben. Das ist Ausdruck des hohen Stellenwerts der Bundeswehr hier im Deutschen Bundestag und der Wertschätzung für unsere Soldatinnen und Soldaten.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Enrico Komning [AfD])
Wir können sehr stolz sein auf unsere Soldatinnen und Soldaten. Sie leisten jeden Tag professionell, engagiert, pflichtbewusst ihren Dienst. Sie tun das häufig unter Rahmenbedingungen, die besser sein könnten und besser sein müssten.
Im Amt der Wehrbeauftragten bearbeiten wir pro Jahr ungefähr 4 000 Vorgänge. Im letzten Jahr waren das 2 343 individuelle Eingaben von Soldatinnen und Soldaten und 988 meldepflichtige Ereignisse, die wir verfolgt haben. Das sind Werte wie im Vorjahr.
Ich möchte an dieser Stelle mit einem Dank beginnen, nämlich mit einem Dank an meine 65 Kolleginnen und Kollegen im Amt – einige sind heute hier –, die jeden Tag die Anliegen unserer Soldatinnen und Soldaten mit Herzblut, Sorgfalt und Engagement bearbeiten und natürlich auch diesen Jahresbericht vorbereitet haben.
(Beifall im ganzen Hause)
Ich habe im letzten Jahr 70 Truppenbesuche absolviert. Ich war rund 100 Tage im Jahr unterwegs bei unseren Soldatinnen und Soldaten im Inland und in den Einsatzgebieten. Ich habe dabei wichtige Eindrücke gewonnen und viele wertvolle Gespräche geführt.
Im Jahr 2022 war unsere Bundeswehr so gefordert wie nie. Der Krieg hat das Jahr geprägt. Der schreckliche Angriffskrieg in der Ukraine hat die Bundeswehr geprägt. Ich will folgende Punkte hervorheben:
Erster Punkt. Unsere Bundeswehr unterstützt die Ukraine tatkräftig. Material wird abgegeben, Material wird zur Unterstützung der Ukraine geliefert. Unsere Soldatinnen und Soldaten engagieren sich in der Ausbildung der ukrainischen Soldatinnen und Soldaten. Das ist der erste wichtige Punkt.
Zweiter wichtiger Punkt. Wir haben die NATO-Ostflanke verstärkt, und zwar massiv: die EFP-Battlegroup in Litauen, die Präsenz der Marine in der Ostsee, das Air Policing in Rumänien und im Baltikum und die Flugabwehr in der Slowakei. Gleichzeitig muss unsere Bundeswehr immer auch darauf achten, ihre eigene Einsatzbereitschaft herzustellen und zu erhalten.
Das fordert die Verbände ganz enorm. Es gibt Verbände, die alles gleichzeitig machen müssen: Sie haben Material abgegeben, sie engagieren sich in der Ausbildung, und sie sind gleichzeitig im Einsatz. Da sieht man in der Bundeswehr, was Zeitenwende für unsere Soldatinnen und Soldaten heißt.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)
Ich beginne mit dem Material. Die Bundeswehr hat von allem zu wenig. Das ist bekannt; aber es wird nicht dadurch besser, dass es bekannt ist. Sie hat seit dem 24. Februar 2022 noch weniger. Deswegen ist es gut und wichtig, dass wir das 100-Milliarden-Euro-Sondervermögen zur Wiederherstellung der vollen Einsatzbereitschaft haben. Das Geld muss jetzt zügig und spürbar bei unseren Soldatinnen und Soldaten ankommen. Ich muss leider feststellen: 2022 ist noch nichts ausgegeben worden. Aber ich sage auch: Jetzt geht es voran. Das ist schon spürbar. Ich hoffe, dass 2023 viel auf den Weg gebracht wird und die Beschaffung deutlich beschleunigt wird.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Ich möchte positiv hervorheben, meine Damen und Herren, dass in Sachen Beschleunigung schon einiges auf den Weg gebracht wurde: die vereinfachte Anwendung des Vergaberechts, die Erhöhung von Schwellenwerten, das Bundeswehrbeschaffungsbeschleunigungsgesetz. Es konnten auch Entscheidungen getroffen werden über Beschaffungen, die hier im Haus jahrelang umstritten waren, beispielsweise F-35 und der schwere Transporthubschrauber.
Als weiteres positives Beispiel möchte ich Ihnen noch mal sagen, wie wichtig und wertvoll die 2,4 Milliarden Euro für die persönliche Ausstattung unserer Soldatinnen und Soldaten sind.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Dieses Geld kommt an, und das spüren unsere Kräfte in der Truppe.
Aber, meine Damen und Herren, Einsatzbereitschaft bedeutet viel mehr als Material. Es ist sehr wichtig, dass die Infrastruktur modern ist, dass unsere Kasernen in einem guten Zustand sind. Das betrifft Unterkünfte, Toiletten, Duschen, Sportanlagen, Betreuungseinrichtungen, Truppenküchen. Wir brauchen mehr Spinde, wir brauchen Waffenkammern, Munitionslager, und wir brauchen auch viel mehr Digitalisierung, Stichwort „WLAN“.
Wir haben einen Investitionsbedarf von 50 Milliarden Euro. Wir wissen, dass pro Jahr ungefähr 1 Milliarde Euro verbaut wird. Demnach dauert es ein halbes Jahrhundert, bis unsere Kasernen modernisiert sind. Das ist zu lange; hier brauchen wir Beschleunigung.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)
Ich sage Ihnen ganz deutlich, dass für mich das wichtigste Thema das Personal ist. Unsere Bundeswehr hat 183 051 Frauen und Männer. Das ist das Allerwichtigste: das Personal. Eine positive Entwicklung aus dem letzten Jahr: Es konnten 12 Prozent mehr eingestellt werden. Mehr Personen sind zur Bundeswehr gekommen. Das ist eine gute Nachricht. Allerdings ist die Abbruchquote deutlich zu hoch. Sie liegt innerhalb der ersten sechs Monate bei 21 Prozent. Das muss reduziert werden.
Negativ muss ich auch hervorheben, dass es deutlich weniger Bewerbungen gab: 11 Prozent weniger als im Vorjahr. Das ist eine Entwicklung, die nicht gut ist und die mich veranlasst, zu sagen, dass es auf jeden Fall ein gewaltiger Kraftakt sein wird, wenn das Ziel von 203 000 Soldatinnen und Soldaten bis 2031 überhaupt erreicht werden soll.
Außerdem führt die angespannte Personallage in unserer Truppe dazu, dass es eine enorme Belastung, häufig eine Überlastung, in den Verbänden gibt. Deswegen muss das Ziel sein: die richtige Person voll ausgebildet zur richtigen Zeit auf dem Dienstposten.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)
Wir haben zu wenige Frauen in der Truppe. Es wächst langsam. Wir haben 24 180 Frauen; das sind 13,21 Prozent. Wir brauchen mehr Frauen in der Truppe, und wir brauchen auch mehr Frauen in Führungspositionen.
Jetzt komme ich zu einem sehr ernsten Thema. Dies macht uns allen Sorgen, und das darf es in der Bundeswehr nicht geben: Übergriffe auf die sexuelle Selbstbestimmung. Ich hatte 34 Eingaben im letzten Jahr, 357 meldepflichtige Ereignisse. Jeder einzelne Fall ist einer zu viel.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)
Ein Drittel der Vorgänge geschehen unter Alkoholeinfluss, und 80 Prozent der Betroffenen sind Frauen. Es gibt eine hohe Dunkelziffer. Das ist etwas, was auch ausschlaggebend dafür ist, ob sich Frauen für die Bundeswehr interessieren. Sie müssen wissen, dass es keine Übergriffe gibt und dass sie dort sicher sind. Hier sehe ich Handlungsbedarf.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)
Das Thema Rechtsextremismus erfordert weiterhin unsere volle Aufmerksamkeit, konsequente Verfolgung und viel Prävention, auch wenn ich feststelle – und das ist eine gute Nachricht –, dass die Zahl der Fälle jedenfalls im Jahr 2022 gesunken ist. Aber auch hier gibt es noch Handlungsbedarf. Die Verfahren dauern viel zu lange. Ich hoffe sehr, dass die Änderung des Soldatengesetzes dieses Jahr hier beschlossen wird, wodurch Entlassungen vereinfacht werden.
Ich möchte auch an dieser Stelle sehr positiv hervorheben: Im letzten Jahr beging das Heer am 23. Februar einen Tag der Werte. Das ist eine gute Sache. Das soll verstetigt werden. Dieses Jahr soll solch ein Tag am 23. Mai zum Geburtstag unseres Grundgesetzes stattfinden. Das ist etwas, was man ausdrücklich hervorheben kann.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Zu den Einsätzen. Meine Damen und Herren, ich habe schon über die enorme Belastung unserer Truppe gesprochen. Ich möchte Ihnen eines gerne mitgeben: Unsere Soldatinnen und Soldaten erwarten eine Priorisierung der Einsätze. Wir haben enorme Aufgaben und Aufträge in der Bündnis- und Landesverteidigung. Natürlich soll sich die Bundeswehr auch weiter im internationalen Krisenmanagement engagieren. Aber alles gleichzeitig mit der Intensität, wie es gegenwärtig der Fall ist, das geht nicht.
(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!)
Das überfordert unsere Truppe. Deswegen braucht es eine Priorisierung. Es braucht auch klare Vorgaben hinsichtlich der Ziele und der Dauer der Einsätze.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)
Ich möchte in diesem Zusammenhang ausdrücklich positiv hervorheben den Einsatz in Niger, die Mission Gazelle. Das war ein vorbildlicher Einsatz, den man auch als Blaupause für andere Einsätze nehmen kann, mit einem klar definierten Ziel, mit einer klaren Dauer und mit sehr viel Planbarkeit und sehr viel Engagement. Das sollte man positiv hervorheben.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)
Meine sehr geehrten Damen und Herren, unsere Soldatinnen und Soldaten verdienen unser Interesse, das Interesse der gesamten Gesellschaft. Sie verdienen Unterstützung; sie verdienen Respekt, und sie verdienen unseren Dank. Deswegen verdienen sie auch die allerbesten Rahmenbedingungen für ihren Dienst.
Es hat sich schon viel verbessert in der letzten Zeit – das möchte ich ausdrücklich sagen –; es ist vieles auf gutem Weg. Aber es gibt auch noch sehr viel zu tun. Und all das beschreibt der Jahresbericht.
Ich würde mich freuen, wenn der Jahresbericht ein Impuls ist, ein Impuls für alle militärischen und politischen Verantwortlichen, an den Problemen zu arbeiten, Lösungen zu finden, Verbesserungen zu erreichen. Ich freue mich auf viele gute Diskussionen hier im Deutschen Bundestag, auch auf viele Entscheidungen in diesem Sinne.
Ich möchte abschließend noch einmal unseren Soldatinnen und Soldaten ganz herzlich für ihren Dienst danken.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)
Bevor ich die Aussprache eröffne, danke auch ich noch mal im Namen des ganzen Hauses der Wehrbeauftragten und ihrem ganzen Team für die Erstellung des Jahresberichtes 2022. Herzlichen Dank!
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Ich eröffne nun die Aussprache. Zuerst hat das Wort für die Bundesregierung der Bundesminister der Verteidigung, Boris Pistorius.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7552641 |
Wahlperiode | 20 |
Sitzung | 97 |
Tagesordnungspunkt | Jahresbericht 2022 der Wehrbeauftragten |