26.05.2023 | Deutscher Bundestag / 20. WP / Sitzung 107 / Tagesordnungspunkt 28

Daniel BaldySPD - Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexuellem Missbrauch

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Regenbogenfahne und sexuellen Kindesmissbrauch in einen Zusammenhang in einer Rede zu bringen, das ist das Allerletzte – aber mehr erwartet man von Ihnen nicht.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der FDP – Dr. Bernd Baumann [AfD]: Das ist die Realität! Das ist die linke Realität!)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! 48! 48 Fälle von sexuellem Missbrauch an Kindern. 48 Fälle geschehen jeden Tag in Deutschland. 15 520 – das ist die Zahl der Fälle von sexuellem Kindesmissbrauch im Jahr 2022, die diese Woche von BKA-Präsident Holger Münch und der UBSKM, der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Kerstin Claus vorgestellt wurde.

48 Fälle pro Tag! Und das sind nur die gemeldeten Fälle. Diese Zahl zeigt uns mit ernüchternder Klarheit: Sexualisierte Gewalt betrifft viele Menschen. Vereinzelt existierende Dunkelfeldstudien zeigen, dass jede und jeder siebte bis achte Erwachsene in Deutschland sexualisierte Gewalt in der Kindheit und Jugend erlebt hat. Die WHO stellte bereits 2013 fest, dass ein bis zwei Kinder und Jugendliche in jeder Klasse betroffen sind.

Wer sind die Täterinnen und Täter? Die Antwort auf diese Frage lässt auch mich immer wieder betroffen zurück. 70 Prozent der gemeldeten Fälle geschehen in der eigenen Familie. Aber auch der restliche Teil der Fälle geschieht im erweiterten sozialen Umfeld: im Freundeskreis, im Bekanntenkreis der Eltern, aber auch durch Mitarbeitende in Freizeit- und Bildungseinrichtungen. Das zeigt: Die Täterinnen und Täter sind oft enge Bekannte, die erschlichenes Vertrauen ausnutzen. Und: Wir alle kennen Täterinnen und Täter.

Eine forsa-Umfrage im Auftrag des BMFSFJ stellte 2021 allerdings fest: Fast 90 Prozent der Befragten halten es zwar für wahrscheinlich, dass sexualisierte Gewalt im nahen Umfeld, vor allem in Familien, stattfindet. Aber gleichzeitig halten es 85 Prozent für unwahrscheinlich oder ausgeschlossen, dass sexualisierte Gewalt in ihrer eigenen Familie oder dem eigenen Umfeld passiert oder passieren könnte. Was sagt uns das? Das eigene soziale Umfeld ist oft blind, schaut nicht gut genug hin oder ignoriert Alarmsignale, weil die Täterinnen und Täter oft Vertrauenspersonen der Eltern sind.

All diese Studien und Zahlen zeigen uns deutlich: Das Problem betrifft uns alle, und niemand ist davor sicher. Deshalb ist es gut, dass Kerstin Claus als Beauftragte das Thema immer wieder auch in der Öffentlichkeit anspricht und sie sensibilisiert. Die Kampagne „Schieb den Gedanken nicht weg!“ ist dabei ein wichtiger Baustein. Sexualisierte Gewalt geschieht auch vor unseren Augen. Diesen Gedanken dürfen wir nicht wegschieben. Wir alle müssen hinsehen!

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

Und genau das wollen wir als Ampelkoalition tun. Das von uns geplante Gesetz für die UBSKM wird bestehende Strukturen endlich gesetzlich verankern. Wir wollen Mittel für eine effektive Prävalenzforschung zur Verfügung stellen. Denn aus der Sammlung von Einzelfällen erkennen wir Muster und systematisches Versagen: in der Katholischen Kirche, in Teilen des Profisports oder auch in anderen Bereichen.

Wir brauchen eine große Dunkelfeldstudie, die uns Auskunft über drei Dinge gibt: Mit wie vielen Fällen haben wir es zu tun? In welchen Machtstrukturen findet Missbrauch statt? Und in welchen Bereichen findet er gerade nicht statt, weil gute Präventionsarbeit den Missbrauch von Machtstrukturen verhindert? Ich bin dankbar, dass die Beauftragte Kerstin Claus für ein Zentrum für Prävalenzforschung in der Öffentlichkeit immer wieder wirbt, auch in diesem Haus, auch im Ausschuss. Ich möchte das im Namen meiner Fraktion ausdrücklich unterstützen und sie darin bestärken.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

Das Gesetz muss aber noch viel mehr enthalten, zum Beispiel ein Recht auf Aufarbeitung; denn Menschen müssen das Recht haben, Akten einzusehen und Auskünfte zu erlangen. Kinder müssen sich im Durchschnitt sieben Erwachsenen anvertrauen, bevor man ihnen glaubt. Und selbst wenn sie sich nicht anvertrauen: Es wird zu oft übersehen, wenn Kinder und Jugendliche sich verändern und zum Beispiel ihre Leistungen in der Schule nachlassen. Deshalb sind die Fragen vieler Opfer nur allzu berechtigt: Warum sind meine Noten immer schlechter geworden, und warum hat sich niemand für mich interessiert, obwohl ich offensichtlich dringend Hilfe gebraucht hätte? – Das meint das Recht auf Aufarbeitung.

Aus diesem Recht erwächst natürlich auch ein Auftrag an uns, an die Politik: Wo müssen wir bessere Hilfe und Regelungen schaffen? Die Aufarbeitungskommission leistet dazu heute schon einen wichtigen Beitrag. Und auch sie werden wir gesetzlich verankern, weiter stärken und unterstützen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Katja Adler [FDP])

So weit zu dem, was die Ampel plant, was die Ampel tut.

Nun zu Ihrem Antrag. Die ersten beiden Sätze Ihres Antrags lauten:

Kinder und Jugendliche werden in der Bundesrepublik Deutschland leider seit Jahrzehnten Opfer von sexuellem Missbrauch. Häufig geschieht dies in Kirchen und anderen sozialen Institutionen.

Das ist falsch. Zur Erinnerung: 70 Prozent aller Fälle von sexuellem Missbrauch geschehen im privaten Umfeld. Mit Anträgen wie dem Ihren sorgen Sie dafür, dass das Thema „sexueller Missbrauch“ weiterhin in einer Ecke steht, wo man die Schuld ganz einfach Institutionen geben kann. Damit machen Sie es sich aber zu einfach. Es geht nämlich gerade darum, dass alle Menschen in diesem Land für dieses Thema sensibilisiert werden, aufmerksam sind und hinschauen. Mit Ihrem Antrag erreichen Sie genau das Gegenteil!

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Abg. Katja Adler [FDP])

Zu guter Letzt: Sie fordern weiterhin, dass Abgeordnete Teil der Aufarbeitungskommission sein sollen. Inhaltlich kann man sicher darüber streiten. Ich lehne das ab. Aber Ihre Begründung möchte ich doch noch mal erwähnen. Die Begründung lautet nämlich: Die Abgeordneten in der Aufarbeitungskommission sollen auf die Verfassungsmäßigkeit der Aufarbeitungskommission achten. – Wenn ich mir die Schlagzeilen über die AfD in den letzten Wochen, Monaten und Jahren anschaue – Stichworte „rechtsextremer Verdachtsfall“, „eine extremistische Parteijugend“, all diese Dinge –,

(Dr. Bernd Baumann [AfD]: Ihr missbraucht den Verfassungsschutz! Das sagt gar nichts aus!)

dann frage ich mich: Wie wollen Sie denn auf die Verfassungsmäßigkeit achten? Herr Baumann und Kollegen, fangen Sie mal in Ihren eigenen Reihen an, auf Verfassungsmäßigkeit zu achten! Das wäre ein guter Anfang.

Danke schön.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der FDP – Anke Hennig [SPD]: Genau!)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7554620
Wahlperiode 20
Sitzung 107
Tagesordnungspunkt Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexuellem Missbrauch
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