14.06.2023 | Deutscher Bundestag / 20. WP / Sitzung 108 / Zusatzpunkt 1

Ralf StegnerSPD - Aktuelle Stunde - Zerstörung des Kachowka-Staudamms

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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 475 Tage Krieg in Europa, Hundertausende Tote, Vertreibung, täglicher russischer Raketenterror und jetzt die Zerstörung des Kachowka-Staudamms: eine fast unvorstellbare Katastrophe für die Menschen in der Region Cherson und Saporischschja im Südosten der Ukraine, ein Umweltdesaster mit dramatischen Auswirkungen auf das Ökosystem, das dortige Atomkraftwerk – mit all den Gefahren, die damit verbunden sind – und die Landwirtschaft. Unsere Gedanken und unsere Solidarität sind bei den betroffenen Menschen – auch in den russisch besetzten Gebieten –, die nach über einem Jahr Besatzung und Krieg nun auch noch dieses Leid erdulden müssen.

Der Bundesregierung danke ich für die Hilfe. Ich bitte gleichzeitig, nochmals zu prüfen, ob und wie wir noch stärker humanitäre Hilfe leisten, zusätzliche Hilfsgüter für den zivilen Katastrophenschutz liefern und auf internationale Organisationen wie das Rote Kreuz und die Vereinten Nationen einwirken können, damit sie ihre Hilfen für die Menschen in Not verstärken.

Fast alles spricht dafür, dass Russland den Kachowka-Staudamm vorsätzlich gesprengt oder durch Fahrlässigkeit die Zerstörung dieser kritischen Infrastruktur wissentlich in Kauf genommen hat. Ich will mich an den Spekulationen nicht beteiligen; darauf kommt es auch gar nicht an. Im Übrigen haben wir an der Propaganda, die wir hier gerade heute wieder gehört haben, gemerkt: Wahrheit ist in der Regel das allererste Opfer in Kriegen; auch das ist wahr.

Fest steht, dass diese Katastrophe durch unabhängige Ermittlungen aufgeklärt werden muss, dass Beweise gesichert und Kriegsverbrechen strafrechtlich verfolgt werden müssen. Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag hat seine Arbeit zu russischen Kriegsverbrechen in der Ukraine aufgenommen; Sondertribunale für russische Kriegsverbrechen im Ukrainekrieg sollten Teil späterer Friedensverhandlungen sein. Und ich bin sehr froh, dass der Generalbundesanwalt in Karlsruhe bereits eine Abteilung für Völkerstrafrechtsermittlungen in der Ukraine eingerichtet hat; das hat unsere volle Unterstützung. Bei den bevorstehenden Haushaltsverhandlungen sollten wir dafür sorgen, dass die Bundesanwaltschaft für diese Bemühungen die notwendigen Ressourcen erhält, damit die Ermittlungen nach dem Weltrechtsprinzip auch unter schwierigsten Bedingungen stattfinden können, meine sehr verehrten Damen und Herren.

Natürlich beschäftigen wir uns in diesen Tagen auch mit den Bildern von zerstörten Panzern westlicher Bauart, vom fortdauernden Beschuss ziviler Wohn- und Geschäftsgebäude, von Krankenhäusern und anderen Gebäuden. Es gibt kaum etwas, was sich schwerer einordnen lässt als die öffentlichen Tiraden vom Chef der kriminellen Söldnertruppe Wagner, von denen man nicht weiß, ob sie Teil der russischen Propaganda sind oder tatsächlich für Fliehkräfte in der russischen Führung stehen.

(Beifall der Abg. Marianne Schieder [SPD])

Wie dem auch sei: Etwas, was ich seit 15 Monaten wahrnehme, passt nicht zu dem, wie wir den Krieg wahrnehmen, nämlich dass wir zum Teil eine Art Sportberichterstattung über den Krieg vorfinden und in den sozialen Medien das Kriegsgeschehen zum Teil in einem lapidaren Tonfall diskutiert wird, als ginge es um ein Fußballspiel. Es geht aber um echte Menschenleben. Lassen Sie uns, liebe Kolleginnen und Kollegen, trotz punktueller Meinungsverschiedenheiten auch in unserer sprachlichen Kommunikation zuallererst an die Menschenleben denken, die durch diesen Krieg unwiederbringlich ausgelöscht werden.

(Beifall bei der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des Abg. Helge Limburg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Putin hätte es in der Hand, den Krieg jederzeit zu beenden; das stimmt. Gleichzeitig müssen auch wir alle Anstrengungen unternehmen, die möglich sind, um Unterstützung zu leisten. Ich muss sagen: Die humanitäre, die ökonomische und auch die militärische Unterstützung müssen für die Selbstverteidigung erfolgen; das ist ohne Wenn und Aber richtig. Trotzdem ist unsere Aufgabe auch, dazu beizutragen, Eskalationen zu verhindern und die diplomatischen Anstrengungen zu verstärken. Ich begrüße es, wenn afrikanische, lateinamerikanische oder andere Akteure das tun – allerdings nach dem Prinzip „Nothing about Ukraine without Ukraine“; das füge ich ausdrücklich hinzu. Verhandlungen müssen hinter verschlossenen Türen stattfinden, sonst werden sie keinen Erfolg haben.

Ich hatte gestern Gelegenheit, mich über all das mit dem ukrainischen Botschafter Oleksij Makejew auszutauschen. Er hat mich freundlicherweise in die ukrainische Botschaft eingeladen, und mit ihm konnte ich mich über sehr interessante Dinge unterhalten.

Für die direkt betroffenen Menschen in der Ukraine ist dies nicht eine weitere Krise, der es politisch zu begegnen gilt, oder ein weiterer Konflikt, sondern der Krieg, der alle Lebensbereiche betrifft. Trotz aller Meinungsverschiedenheiten, die man im Detail haben mag und die teilweise aus unterschiedlichen Perspektiven diskutiert werden, muss unsere Solidarität denjenigen gelten, die unmittelbar unter diesem Krieg leiden. Das sollten wir niemals vergessen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP und der Abg. Cornelia Möhring [DIE LINKE])

Wir sollten aus unserer Geschichte gelernt haben. Man weiß zumindest von den Großeltern von den Folgen. Meine Generation ist die erste, die hier in Frieden und Wohlstand leben darf. Unsere Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass das auch für unsere Kinder und Enkel gilt. Aber wir wissen auch, was der Krieg bei den Menschen, die davon betroffen waren, angerichtet hat. Deswegen müssen Sympathie und Mitgefühl mit denen, die hauptsächlich darunter zu leiden haben, immer im Vordergrund stehen. Alles, was wir tun können, um den Krieg zu beenden, muss getan werden.

Vielen herzlichen Dank.


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7554751
Wahlperiode 20
Sitzung 108
Tagesordnungspunkt Aktuelle Stunde - Zerstörung des Kachowka-Staudamms
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