14.06.2023 | Deutscher Bundestag / 20. WP / Sitzung 108 / Tagesordnungspunkt 3

Ralf StegnerSPD - Jahresabrüstungsbericht 2022

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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Manchmal habe ich den Eindruck, dass uns in der Zeitenwende der Begriff „Abrüstung“ abhandengekommen ist. Immer wieder werden diejenigen, die sich für Diplomatie, Friedensinitiativen und Abrüstung einsetzen, als gestrig und realitätsfern kritisiert, manchmal als Befürworter von Appeasement-Politik diffamiert. Dabei ist das Gegenteil richtig. Gerade jetzt, gerade angesichts des verbrecherischen Angriffskrieges in unserer direkten Nachbarschaft, brauchen wir eine Politik der Deeskalation und der selbstbewussten Diplomatie, der langfristigen Stärkung der internationalen Rüstungskontrolle, Abrüstungs- und Nichtverbreitungsarchitektur und des Friedens, oder wie es John F. Kennedy gesagt hat: „Die Menschheit muss dem Krieg ein Ende setzen, oder der Krieg setzt der Menschheit ein Ende.“

Ich bin als Nachkriegsdeutscher kein Pazifist, aber ein Kriegsgegner, Friedenspolitiker und Realist. Und wenn die Zeitenwende eine stärkere Rolle Deutschlands in der Welt, gar deutsche Führung bedeuten soll, dann lassen Sie uns über Diplomatie, Abrüstung und Friedenssicherung reden, wobei ich unter Führung verstehe, mit gutem Beispiel voranzugehen und gemeinsam mit den Verbündeten zu handeln. Lieber Herr Kollege Aumer, ich finde, in der Politik ist es richtig, erst zu denken, dann zu reden, dann zu handeln, und nicht wie Herr Merz die umgekehrte Reihenfolge zu wählen, meine sehr verehrten Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD)

Unsere Parlamentsarmee braucht die bestmögliche Ausrüstung, unsere Partnerländer verlangen zu Recht, dass wir unsere Bündnisverpflichtung erfüllen; die Menschen erwarten, dass wir uns selbst verteidigen. Eine militärische Führungsmacht Deutschland braucht es dafür nicht. In dem Bericht der Bundesregierung heißt es:

Das Jahr 2022 brachte einen Rückschlag für die internationalen Bemühungen um Rüstungskontrolle, Abrüstung und Nichtverbreitung, wie es ihn seit vielen Jahrzehnten nicht gegeben hat.

Das stimmt. Und das ist für uns ein klarer Auftrag, unsere Anstrengungen zu verstärken.

Ich finde es erfreulich, dass wir erstmals seit fünf Jahren hier wieder über diesen Bericht debattieren. Eigentlich sollten wir das immer tun, wenn die Bundesregierung über Fortschritte und Herausforderungen der Abrüstungs- und Friedenspolitik berichtet. Der Bericht führt uns in erschreckender Weise vor Augen, wie viel Zerstörungspotenzial der menschliche Erfindergeist hervorgebracht hat, so wie es John F. Kennedy vor 60 Jahren prophezeit hatte. Jedes Unterkapitel zeigt: Es mangelt nicht an Horrorszenarien, wie der Mensch zu Gewalt und Zerstörung bis zur Auslöschung allen Lebens auf der Erde technisch fähig ist. Das zu verhindern, Frieden zu schaffen und zu sichern, ist die Aufgabe der Abrüstungspolitik.

Die klassischen Themen wie nukleare Abrüstung, die mit wirksamen Kontrollmechanismen gesicherte Ächtung biologischer und chemischer Waffen, das Verbot von Antipersonenminen und Streumunition bleiben hochaktuell. Wir dürfen uns nicht vor den eklatanten Verstößen Russlands entmutigen lassen.

(Beifall des Abg. Max Lucks [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Wir müssen im Gegenteil alles dafür tun, dass weitere Länder wie China den großen Verträgen und Abkommen beitreten und bestehende Vereinbarungen wieder gestärkt werden. Es darf keinen neuen Rüstungswettlauf geben, meine sehr verehrten Damen und Herren.

Wir müssen auch über den Einsatz von Explosivwaffen in bevölkerten Gebieten reden. Das gilt genauso für die vernachlässigte Gefahr der Verbreitung von Kleinwaffen. Diese haben in den letzten Jahrzehnten mehr Opfer verursacht als jede andere Waffenart. Was das in Gesellschaften anrichten kann, sehen wir in den USA, wo manche die Lehrerschaft bewaffnen und die Waffengesetze noch weiter liberalisieren wollen. Das ist eine Katastrophe, meine sehr verehrten Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Max Lucks [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] und Matthias W. Birkwald [DIE LINKE])

Mit einem eigenen Kapitel zu neuen sicherheits- und rüstungskontrollpolitischen Herausforderungen, Frau Außenministerin, zeigt der Bericht, dass Abrüstungspolitik so aktuell ist wie nie. Wir müssen die Erkenntnisse über letale autonome Waffensysteme, Drohnen und das Waffenarsenal im Cyberkrieg berücksichtigen und auch den Schutz kritischer ziviler Infrastruktur verstärkt in den Blick nehmen – all das, worüber Sie in dem Bericht, der heute Morgen veröffentlicht worden ist, reden. Hier sind ganz neue Bedrohungen entstanden. Auch die internationale Ächtung krimineller Söldnertruppen wie Wagner und Co gehört zu einer zeitgemäßen Abrüstungspolitik, meine sehr verehrten Damen und Herren.

Ich will auch etwas Grundsätzliches sagen: Wenn wir heute über Abrüstungspolitik sprechen, steht auch das Gegenstück im Raum, die Aufrüstung. Gerade bei deutlich verengten Spielräumen in der Haushaltsaufstellung werden wir erklären müssen, warum wir über das Sondervermögen hinaus mehr Mittel ausgeben wollen, die dann eben nicht für andere Dinge zur Verfügung stehen, die sich die Menschen auch wünschen. Wir müssen ihnen das plausibel erklären. Und wenn die einen die Friedens- und Abrüstungspolitik belächeln, während auf den Sommerfesten von Rheinmetall und Co auf den guten Börsenkurs angestoßen wird, dann läuft etwas schief in unserer Gesellschaft.

Für mich ist Abrüstung nicht nur ein moralisches Gebot, sie liegt auch ganz pragmatisch in unser aller Interesse. Denn die Ressourcen, die für Aufrüstung aufgewendet werden, fehlen uns, um die eigentlichen globalen Menschheitsaufgaben zu lösen, meine sehr verehrten Damen und Herren,

(Beifall des Abg. Max Lucks [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

nämlich ein würdiges Leben für alle Menschen in Sicherheit, Wohlstand, Gesundheit und Frieden zu gewährleisten. Mein politisches Grundverständnis ist übrigens, dass das nicht nur für die Menschen der Bundesrepublik gilt, sondern dass das weltweit unser Anspruch sein muss. Dieses Ziel müssen wir erreichen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Max Lucks [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Der grausame Krieg in Europa macht deutlich, wie wichtig eine langfristige und durchsetzungsstarke Abrüstungs- und Friedenspolitik ist. Er zeigt die Schrecken vieler Waffen, er mahnt uns, vorausschauender zu handeln, was die Reglementierung neuer Waffensysteme angeht. Das Grundprinzip der Abrüstungspolitik ist offensichtlich: Eine Waffe ist allein dadurch gefährlich, dass sie existiert. Es ist einfacher, günstiger und lebensrettend, eine Mine, eine Streubombe oder eine taktische Nuklearwaffe erst gar nicht zu bauen, als später ihren Einsatz durch internationale Verträge zu verhindern oder ihre Hinterlassenschaften von ehemaligen Schlachtfeldern zu räumen.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie des Abg. Max Lucks [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Abrüstungspolitik ist mühsam. Sie geht nicht mit spektakulären Erfolgen einher. Sie erfordert Klugheit und Beharrlichkeit und manchmal, auch dann darüber zu reden, wenn viele nur über Aufrüstung reden wollen. Aber ich will Ihnen auch sagen: Mein Glaube an die Vernunftbegabtheit des Menschen ist groß. Und wenn man in die Politik geht, muss man Optimist sein und auch in schwierigen Zeiten für Dinge kämpfen, von denen man glaubt, dass sie weit entfernt sind. Ich will aber auch deutlich sagen: Das hat auch noch eine andere Dimension. Oder um es mit dem großen Philosophen Immanuel Kant zu sagen: „Der Friede ist das Meisterstück der Vernunft.“ Daran sollten wir arbeiten, meine sehr verehrten Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Max Lucks [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] und Matthias W. Birkwald [DIE LINKE])

Vielen Dank, Herr Kollege Stegner. – Nächster Redner ist der Kollege Gerold Otten, AfD-Fraktion.

(Beifall bei der AfD)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7554756
Wahlperiode 20
Sitzung 108
Tagesordnungspunkt Jahresabrüstungsbericht 2022
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