15.06.2023 | Deutscher Bundestag / 20. WP / Sitzung 109 / Tagesordnungspunkt 9

Katrin BuddeSPD - 70 Jahre Volksaufstand am 17. Juni 1953

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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Meine Eltern waren am 17. Juni 1953  16 und 17 Jahre alt. Meine Mutter hatte an diesem Tag Prüfungen und wurde von dort nach Hause geschickt. Da standen die Panzer schon in der Stadt. Mein Vater holte mit seinen Kollegen schnell noch das Reißzeug und den Rechenschieber aus dem Zeichenbüro – man kann ja nie wissen – und ging dann mit allen anderen in das Kulturhaus. Es wurde über Streik, über Forderungen nach neuen Normen, bessere Bezahlung geredet, darüber, dass überall in den Städten die Arbeit niedergelegt worden war. Aus der Arbeiterschaft wurden fünf Personen ausgewählt, die die gemeinsamen Forderungen zur sowjetischen Militärkommandantur bringen sollten.

Dann kamen die Panzer. Sie standen am Ein- und Ausgang. Bald war klar, dass die Entsendeten nicht zurückkommen würden. Sie waren eingesperrt worden. Und es wurde der Ausnahmezustand verhängt, es durften nur noch zwei Personen gemeinsam auf der Straße sein.

Ich bin 1965 geboren. Für mich ist der 17. Juni 1953 ein Datum aus dem Geschichtsbuch, so wie für meine Kinder die DDR und die Wiedervereinigung etwas aus dem Geschichtsbuch ist. Allerdings stand in meinem Geschichtsbuch etwas anderes als in dem gleichaltriger Schüler/-innen in der Bundesrepublik. In meinem war von Provokateuren aus dem Westen die Rede, die wenige Werktätige zum Streik gewannen, von der Befreiung faschistischer Kriegsverbrecher aus Gefängnissen, von Aufruf zu Mord durch konterrevolutionäre Kräfte, von einer Mehrheit der Bevölkerung, die mit guten Produktionsleistungen bewies, dass sie mit den gefährlichen Plänen des Imperialismus nichts zu tun haben wollte. Was für eine Geschichtsklitterung!

Ich weiß nicht, wer von meinen Mitschülerinnen und Mitschülern dieser Deutung Glauben geschenkt hat. Ich bin in einem Elternhaus groß geworden, das unangepasst war und in dem offen über die tatsächlichen Ereignisse geredet wurde. Nein, es gab keine eingeschleusten Konterrevolutionäre. Es waren die Kolleginnen und Kollegen meines Vaters, die die Arbeit niedergelegt hatten, aus deren Mitte die Forderungen erhoben wurden. Und es waren auch nicht die meisten Werktätigen, die weiterarbeiteten, sondern einige besondere Brigaden.

In bundesdeutschen Lehrbüchern war die Rede von der Zone, in der sich die deutschen Arbeiter gegen ihre Zwingherren erhoben, von machtvollen Demonstrationen für die Einheit des Vaterlandes und der Befreiung politischer Häftlinge, von der Niederschlagung im Feuer der Kanonen und Maschinengewehre der sowjetischen Armee. Die Zeit hatte schon auf beiden Zeiten eine besondere Sprache.

Richtig ist, dass in Hunderten Ortschaften der ehemaligen DDR mehr als 1 Million Menschen auf die Straße gingen. Sie demonstrierten gegen eine schwierige Versorgungslage, für die Verbesserung von Arbeitsbedingungen, für ein freies Leben und für freie Wahlen. Mehr als 600 Betriebe wurden bestreikt. Im Juli 1952 hatte die SED die Gangart verschärft, was hieß:

Es ist zu beachten, daß die Verschärfung des Klassenkampfes unvermeidlich ist und die Werktätigen den Widerstand der feindlichen Kräfte brechen müssen.

Das hieß: Zehntausende Menschen wurden wegen Nichtigkeiten inhaftiert, über 20 000 warteten auf den Prozess. Nicht Faschisten, sondern diese Menschen – politische Gefangene – waren es, die aus den Gefängnissen befreit wurden. Diesem Mut gehört unser Respekt. Der 17. Juni 1953 war der erste Riss im System.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Hätte die sowjetische Führung nicht den Ausnahmezustand verhängt und den Aufstand mit Panzern niedergeschlagen, der Aufstand hätte das Potenzial gehabt, schon 1953 der Herrschaft der SED ein Ende zu setzen. Das blutige Niederschlagen durch die russische Armee und die Sicherheitsbehörden der DDR war aber nur ein Vorgeschmack auf das, was noch kommen sollte, auf Unterdrückung und Bespitzelung eines ganzen Systems, das darauf ausgerichtet war, den Bürgerinnen und Bürgern ihre Freiheit zu nehmen. Unsere Anerkennung und Würdigung und unser Gedenken gehört heute den mutigen Menschen des 17. Juni 1953.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)

Anders als nach 1945 haben wir seit 1990 gemeinsam schnell daran gearbeitet, die zweite Diktatur auf deutschem Boden aufzuarbeiten. Wir haben 1998 die Bundesstiftung Aufarbeitung gegründet, die sich mit ganzer Kraft der Aufarbeitung widmet. Es wurde die Stasi-Unterlagen-Behörde gegründet; sie hat in fast drei Jahrzehnten ganz viel erreicht. Die Rehabilitierung der Opfer wurde gesetzlich geregelt und wird immer wieder evaluiert, verbessert, dem Forschungsstand angepasst. Wir haben per Gesetz eine Beauftragte für die Opfer kommunistischer Gewalt beim Bundestag eingerichtet, die unabhängig und frei von jeder Weisung arbeiten kann.

Und trotzdem gibt es noch richtig viel zu tun. Einiges von dem haben wir in unserem Antrag aufgeschrieben, einem Antrag übrigens, den wir gerne mit der CDU/CSU gemeinsam eingebracht hätten. Aber nachdem wir Ihre zusätzliche und richtige Forderung nach der Benennung des Härtefallfonds aufgenommen haben, sind Sie abgesprungen. Sie wollten einen eigenen Antrag stellen. Es wäre besser gewesen, Sie hätten das gelassen.

Ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll, ob ich es mutig oder frech finden soll. Sie dokumentieren mit Ihrer langen Liste an Forderungen 16 Jahre Unfähigkeit der Kanzlerschaft Merkel, diese Themen zu lösen. Im Grunde tun wir Ihnen einen Gefallen, wenn wir den Antrag ablehnen. Sonst wäre es auch noch bundestaglich-amtlich dokumentiert, dass das so ist. Ein Rat: Solange Menschen wie ich im Bundestag sind, die Ihnen zu jedem Punkt sagen können, wo die CDU/CSU in der Vergangenheit blockiert hat, sollten Sie so etwas lassen.

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Erhard Grundl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] und Thomas Hacker [FDP])

Umso mehr danke ich den Kolleginnen Ihrer Fraktion, Frau Connemann, Frau Motschmann, Frau Bernstein, für die Arbeit in der letzten Legislatur, in der wir gemeinsam viel erreicht haben.

Und es war auch nicht die heroische Haltung der CDU/CSU, die die Hoffnung auf die deutsche Einheit und die gesamtdeutsche Erinnerung an den 17. Juni erhalten hat. Das Gesetz, den 17. Juni zum Nationalfeiertag des deutschen Volkes zu erheben, hat die SPD eingebracht: am 29. Juni 1953. Sie sind einen Tag später aufgesprungen. Auch das ist Geschichtsklitterung. Und es war der Milliardenkredit von Strauß und Kohl von 1983, der die DDR vor der Zahlungsunfähigkeit bewahrt hat, nachdem selbst die Sowjetunion kein Geld mehr geben wollte. Damit haben Sie der kommunistischen Diktatur zu sechs weiteren Jahren Unterdrückung verholfen.

(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Da kommen aber Historiker heute zu einem anderen Ergebnis!)

Zum Schluss. Mit der Friedlichen Revolution von 1989 konnte vollendet werden, was die Menschen schon 1953 wollten: ein Leben in Demokratie und Freiheit und ein geeintes Deutschland.

(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Sie haben die Wiedervereinigung schon in den 80-ern aufgegeben! Oskar Lafontaine hatte das schon alles aufgegeben!)

Mein Dank, mein Gedenken, meine Anerkennung und Hochachtung gilt den Menschen von 1953 und 1989.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Das Wort hat die Kollegin Christiane Schenderlein für die CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7554870
Wahlperiode 20
Sitzung 109
Tagesordnungspunkt 70 Jahre Volksaufstand am 17. Juni 1953
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