15.06.2023 | Deutscher Bundestag / 20. WP / Sitzung 109 / Tagesordnungspunkt 9

Carsten Schneider - 70 Jahre Volksaufstand am 17. Juni 1953

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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Aufstand vom 17. Juni 1953 wurde von niemandem zentral organisiert. Er brach dezentral, nahezu spontan aus. „ Acht Jahre erduldeten wir eure Qualen, jetzt fordern wir freie Wahlen!“, stand auf einem der handgemalten Plakate an diesem Tag. Dennoch – oder gerade deswegen, weil es nicht zentral organisiert war – entfaltete der Protest seine explosive Wucht. Die Kollegin hat es schon gesagt: Etwa 1 Million Menschen in über 700 Städten der DDR gingen auf die Straße: für soziale Verbesserungen, aber eben auch für freie Wahlen, für Demokratie und für die Wiedervereinigung.

Der Massenaufstand prägte ganz Deutschland. Er prägte das Bild im Westen von den Bürgerinnen und Bürgern der DDR. Er beeinflusste das Selbstbild der Menschen in der DDR, auch wenn die Führung des Landes die Erinnerung an das Datum unterband. Zugleich hatte die Sowjetunion klargemacht, dass sie den Herrschaftsbereich mit Gewalt aufrechterhalten würde und konnte. Nach dem 17. Juni 1953 verschärfte die SED Repressionen, die Stasi und Einparteiendiktatur. Am Ende stand der Mauerbau. Die SED-Führung wusste sich nicht mehr anders zu helfen.

Dennoch war der Aufstand am 17. Juni nicht umsonst. Im Gegenteil: Er war nichts weniger als ein leider gescheiterter Vorlauf für den Herbst 1989. Es ist eines der wichtigsten Ereignisse unserer deutschen Demokratiegeschichte. Die gesamte historische Bedeutung wird deutlich, wenn man den 17. Juni – wie von der Kollegin bereits geschehen – in einen europäischen Kontext stellt. Es gab den mutigen Aufstand vom 17. Juni 1953 in der DDR mit über 1 Million Streikenden, Aufständischen. Später, 1956, kam der Aufstand in Ungarn hinzu. In Prag rebellierte 1968 ein ganzes Land gegen den sowjetischen Weg zum Kommunismus. Die Solidarnosc im Polen der 1980er-Jahre brachte Millionen gegen die kommunistische Diktatur auf die Straße und später in die Gewerkschaft hinein. All diese Menschen stellten sich tapfer gegen die sowjetische Hegemonie. Überall dort musste die totalitäre Herrschaft Gewalt anwenden, um die Macht zu sichern, und überall dort wurde sie am Ende auch überwunden.

„Der 17. Juni hat mich eines gelehrt: Es gibt Dinge, die man durchsetzen kann.“ So wird der 90-jährige Lutz Rackow, der beim 17. Juni dabei war, im „Tagesspiegel“ zitiert. Leider ist dafür manchmal ein langer Atem notwendig. Wer wüsste das besser als die Ostdeutschen?

Früher war der 17. Juni in Westdeutschland der Tag, der die Hoffnung auf die Wiedervereinigung lebendig halten sollte. Diese Hoffnung hat sich erfüllt. Wir feiern den Glücksfall der deutschen Einheit am 3. Oktober. Es wäre deshalb folgerichtig, den 17. Juni als zentralen Gedenktag neu aufzuladen

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der FDP und der AfD – Dr. Götz Frömming [AfD]: Als Feiertag!)

und dabei auch an Europa zu denken. Gedenken wir an diesem Tag der Menschen in Europa, die sich damals für Freiheit und Demokratie eingesetzt haben. Diese Werte verbinden uns bis heute, und sie wurden in Mittel- und Osteuropa gegen den Widerstand der Diktaturen erkämpft. Beschäftigen wir uns damit, was Stacheldraht und Mauern, Diktatur und ihre Opfer, Reisebeschränkungen und Systemkonfrontation bedeuten.

Erinnern wir uns daran, dass die Demokratie nicht selbstverständlich ist, sondern dass wir sie immer aufs Neue verteidigen müssen. Sie ist auch heute gefährdet, von innen und von außen. Wir müssen wachsam sein. Erinnern wir uns daran, was der rechte Flügel hier ab und zu verharmlost: Verantwortlich für die deutsche Teilung war die nationalsozialistische Diktatur.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Die Vereinigung gelang, weil sie von Demokraten der europäischen Nachbarn im engsten Einvernehmen vorangetrieben wurde. Wir sind den anderen Demokratien Europas dankbar, dass wir Deutschland vereinigen konnten und Mitglied der Europäischen Union und der NATO sind.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP – Widerspruch bei der AfD)

– Da ich gerade Sie von der AfD höre: Dieses Russland, für das Sie geradezu unterwürfig um Verständnis werben, untergräbt heute mit Trollfabriken, Fake News und finanziellen Mitteln für rechte Parteien unsere Demokratien in Europa.

(Dr. Götz Frömming [AfD]: In welcher Partei sind Sie noch mal?)

Es gibt kein Ende der Geschichte, gelegentlich wiederholt sie sich sogar. Heute kämpfen Ukrainerinnen und Ukrainer entschlossen gegen ein imperialistisches Regime, das von einer neuen Sowjetunion träumt.

(Dr. Götz Frömming [AfD]: Schröder, Schwesig – in welcher Partei?)

Dieser Kampf begann übrigens schon 2013/2014 auf dem Maidan, ein Protest, an dem Menschen aus allen Schichten teilnahmen. Auch diese Verbindungslinie gibt es zum 17. Juni. Und sie zeigt einmal mehr: Dieser Gedenktag ist von großer Bedeutung für unser Selbstverständnis als europäische Nation auf dem festen Fundament demokratischer Werte. Der 17. Juni 1953 sollte ein Gedenktag für Freiheit und Demokratie in ganz Europa sein.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vielen Dank, Kollege Schneider. – Nächster Redner ist der Kollege Sepp Müller, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7554879
Wahlperiode 20
Sitzung 109
Tagesordnungspunkt 70 Jahre Volksaufstand am 17. Juni 1953
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