Helge LindhSPD - Suizidhilfe
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir können und dürfen nicht den Menschen vor seiner Freiheit schützen. Wir können und dürfen nicht den Menschen vor der Ausübung seiner Freiheit schützen. Und wir können und dürfen nicht, so schwer uns das fallen mag, den Menschen vor sich selbst schützen.
Die Mehrheit der Bevölkerung unseres Landes unterstützt in der so brisanten, so berührenden, so existenziellen Frage des Suizids und des assistierten Suizids den Akzent auf Selbstbestimmung – ganz eindeutig. Wir brauchen – ja, wir brauchen! – einen Schutzraum, einen Schutzraum für die Freiheit der Entscheidung, einen Schutzraum, der sowohl die Wahrung des Lebens umfasst, aber eben auch die ganz konsequente Wahrung und Verteidigung der Autonomie und der Selbstbestimmung des Einzelnen, einen Schutzraum für die Identität, Individualität und Integrität der einzelnen Personen und einen Schutzraum jenseits von Kriminalisierung, jenseits von Pathologisierung und jenseits von Stigmatisierung.
In diesem Schutzraum der Entscheidung, der auch ein Raum der Beratung ist, hat neues Strafrecht, hat neue Strafbarkeit nichts zu suchen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der FDP und der LINKEN)
In diesem Raum hat der Staat sich zurückzunehmen. Beide Gesetzentwürfe und nahezu alle hier im Raum – jedenfalls die demokratischen Kräfte – sind sich doch einig darin,
(Zurufe der Abg. Dr. Rainer Kraft [AfD] und Beatrix von Storch [AfD])
dass wir eine Regelung für einen assistierten Suizid brauchen, der diesen rechtssicher und klar ermöglicht.
Im Rahmen der Debatte darüber sprechen wir viel über Einflussnahmen Dritter, über innere und äußere Zwänge, über psychische Störungen, über Werte, unsere Einstellung, unsere Weltanschauung und unsere moralischen Vorstellungen. Aber es gibt viel zu häufig eine große Leerstelle in dieser Debatte. Diese Leerstelle steht für die Lage und die Position derer, um die es geht, die betroffen sind. In all den Debatten sind sie irgendwie an den Rand geraten; das kann aber nicht sein. Was ist die Perspektive, was ist der Blickwinkel derer, die mit dieser Entscheidung ringen, derer, die willig sind oder die überlegen, Suizid zu begehen? Wir reden sehr viel darüber, was wir über Sterben und Tod denken. Was denken aber sie, diejenigen, um die es geht, darüber?
Wir haben viele floskelartige Formulierungen, die uns umwabern. Eine davon ist, dass das Sterben zum Leben gehört. Aber was heißt das denn? Das heißt, wenn wir von selbstbestimmtem, autonomem, aber auch gesellschaftlich geborgenem Sterben reden, dann reden wir auch über selbstbestimmtes, autonomes, freies, gesellschaftlich geborgenes Leben. Wir sind dagegen – ich bin entschieden dagegen –, das als Gegensatz aufzubauen, einen Gegensatz zu konstruieren. Nein, das ist nicht so! Deshalb ist unsere Gruppe, unser Gesetzentwurf ganz eindeutig für eine Bejahung des Lebens; wir stehen zu einem Ja zum Leben. Und zwar welchen Lebens? Es geht doch nicht einfach nur um das abstrakte Leben an sich, sondern es geht um ihr Leben und sein Leben, um das Leben konkreter Personen. Wir betonen doch immer in vielen Debatten – und weil es dann so selten passiert, ist es zur Floskel geworden –, dass wir nicht übereinander, sondern miteinander reden sollten. Dann tun wir das doch! Reden wir doch mit denen, die es betrifft!
So in der Anhörung hier im Ausschuss im Bundestag Maximilian Schulz, ein Mittdreißiger aus München: Seit der Kindheit ist er schwer chronisch erkrankt, infolge eines medizinischen Unfalls zudem seit einigen Jahren massiv eingeschränkt. Er als jemand, der das Leben bejaht, der das Leben liebt, der an seinem Leben hängt, befürwortet ausdrücklich unseren freiheitlichen Entwurf. Warum tut er das? Weil er diesen als einen mentalen Befreiungsschlag empfindet, weil er darin die Möglichkeit sieht, jetzt freier leben zu können, weil er eines Tages die Möglichkeit haben wird, mit nicht so hohen Hürden selbstbestimmt, frei nach seiner Entscheidung – wenn er es denn will, wenn er so empfindet –, gut beraten und nicht alleingelassen aus dem Leben zu gehen. Das ist für ihn Gewinn von Lebensqualität und Lebenszeitverlängerung; das hat er in dieser Anhörung hier vor allen sehr deutlich gemacht. Das war eine Lehrstunde in Demut und Menschlichkeit.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der FDP und der LINKEN)
Er sagte in diesem Beitrag und auch etwa im „Spiegel“, dass er nicht sagen kann, ob er die Möglichkeit ergreifen wird, und dass er in der Vergangenheit schon vor dem Moment stand, aber sich entschieden hat, weiterzuleben. Er sagte, dass er, wenn der Moment des Todes kommt – sei es von selbst oder dass er sich dazu entscheiden wird und dann Hilfe in Anspruch nimmt –, Letzteres tun will in dem Wissen, alles, was möglich war, dem Leben abgerungen zu haben.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Wir haben ihm, denke ich, beizustehen, ihn zu unterstützen, ihn nicht alleinzulassen, ihm diese Möglichkeiten des Lebens, aber auch die des selbstbestimmten Sterbens zu geben. Aber darüber, was möglich ist, entscheidet niemand sonst außer ihm selbst; nur er selbst.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der FDP und der LINKEN)
Nächste Rednerin: Dr. Kirsten Kappert-Gonther für die Gruppe „Dr. Castellucci und andere“.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD, der CDU/CSU und der FDP)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7556114 |
Wahlperiode | 20 |
Sitzung | 115 |
Tagesordnungspunkt | Suizidhilfe |