06.07.2023 | Deutscher Bundestag / 20. WP / Sitzung 115 / Zusatzpunkt 16

Martina Stamm-FibichSPD - Suizidhilfe

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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Bürgerinnen und Bürger! In den vergangenen Wochen und Monaten haben wir sehr ausgiebig über das Thema Suizidhilfe diskutiert. Bei den Debatten hier im Haus, in der Anhörung, aber auch bei Veranstaltungen im Wahlkreis und im Gespräch mit den einzelnen Bürgerinnen und Bürgern wurde mir eine Sache ganz besonders bewusst: Die Menschen wollen endlich Klarheit darüber, welche Möglichkeiten sie haben, wenn sie irgendwann einmal aus welchen Gründen auch immer nicht mehr weiterleben wollen. Derzeit gibt es diese Klarheit nicht. Nach Umfragen wollen über 70 Prozent, dass wir diese Klarheit schaffen.

All den Bürgerinnen und Bürgern, die in den vergangenen Monaten in meiner Sprechstunde waren und die Petitionen zu diesem Thema eingereicht haben, all diesen Menschen kann ich heute keine klare Antwort auf ihre Fragen geben; denn nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts und der Aufhebung des § 217 Strafgesetzbuch befinden wir uns in einer rechtlichen Grauzone. Zwei Beispiele: Der Nichtanwendungserlass für das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte verhindert, dass Sterbewillige an das tödliche Medikament gelangen. Gleichzeitig steht in Berlin ein Arzt vor Gericht, weil er für eine Frau eine Infusion mit einer Überdosis Narkosemittel bereitstellte. Eine Verurteilung wegen Totschlags in mittelbarer Täterschaft ist nicht ausgeschlossen. Diese Zustände sind unhaltbar.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der FDP und der LINKEN)

Den Menschen muss die Ausübung ihres Willens möglich sein, ohne dass sich eine Behörde querstellt. Genauso muss es einem Suizidhelfer möglich sein, dass er oder sie Hilfe leistet, ohne mit einem Bein im Gefängnis zu stehen.

(Beifall der Abg. Dr. Paula Piechotta [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Deshalb ist es notwendig, dass wir klare Vorgaben dazu machen, wie Suizidhilfe in Deutschland zu leisten ist. Gleichzeitig muss sichergestellt werden, dass Menschen, die diesen Weg gehen wollen, ein gutes Beratungsangebot finden.

Nur wenn wir diese beiden Voraussetzungen schaffen können, können wir vermeiden, dass dubiose Angebote zur Suizidhilfe entstehen. Wir brauchen also unbedingt ein Gesetz. Dabei müssen wir die richtige Balance zwischen Freiheitsrechten des Einzelnen und dem Schutz vor Fremdeinwirkung finden. Einerseits geht es also darum, den niederschwelligen Zugang zur Suizidhilfe sicherzustellen, andererseits müssen wir Vorsorge dafür treffen, dass die Freiverantwortlichkeit und die Dauerhaftigkeit des Sterbewunsches zu jeder Zeit sichergestellt sind. Nur der Gesetzentwurf der Gruppe „Künast/Helling-Plahr“ vereint diese beiden Anforderungen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der FDP und der LINKEN)

Der Entwurf sichert das Recht auf selbstbestimmtes Sterben und bestimmt einen klaren Prozess zur Inanspruchnahme von Suizidhilfe. Gleichzeitig sieht der Entwurf den Aufbau einer umfassenden Beratungsstruktur vor, und er enthält Maßnahmen zum Schutz des Einzelnen. Diese Struktur ist der Garant dafür, dass eine autonome und freie Entscheidung sichergestellt wird, ohne dass der Zugang zur Suizidassistenz über die Maßen eingeschränkt wird.

Genau in diesem Punkt liegt der Hauptunterschied zum Entwurf der Gruppe „Castellucci“. Die Hürden in diesem Entwurf sind zu hoch. Ich erinnere an die öffentliche Anhörung im November: Vier von fünf juristischen Sachverständigen haben erhebliche Zweifel am Schutzkonzept des Gesetzentwurfs der Gruppe „Castellucci“ geäußert.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Schlimmste, was uns passieren kann, ist, dass wir heute am Ende ohne Regelung dastehen und dass der angenommene Entwurf sofort wieder vom Bundesverfassungsgericht gekippt wird.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der FDP und der LINKEN)

Um das zu verhindern, bitte ich Sie eindringlich um Ihre Unterstützung für den Entwurf der Gruppe „Künast/Helling-Plahr“.

Zum Abschluss möchte ich noch für den Antrag zur Suizidprävention werben, den wir nach dieser kontroversen Diskussion über die beiden Gesetzentwürfe – hoffentlich mit großer Mehrheit – beschließen, und mich auch explizit für die gute Zusammenarbeit bedanken. Unabhängig davon, wie die Abstimmung über die Entwürfe zur Suizidhilfe heute ausgeht, ist es unverzichtbar, dass wir die Suizidprävention in Deutschland stärken; denn noch immer nehmen sich in diesem Land auch sehr viele junge Menschen das Leben, und das müssen wir verhindern.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der FDP und der LINKEN)

Die im Antrag aufgelisteten Maßnahmen sind wichtige Bausteine, um die Situation entscheidend zu verbessern.

Vielen Dank.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der FDP und der LINKEN)

Nächste Rednerin: Elisabeth Winkelmeier-Becker für die Gruppe „Dr. Castellucci und andere“.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP und der Abg. Jessica Tatti [DIE LINKE])


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7556122
Wahlperiode 20
Sitzung 115
Tagesordnungspunkt Suizidhilfe
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