28.09.2023 | Deutscher Bundestag / 20. WP / Sitzung 125 / Tagesordnungspunkt 15

Natalie PawlikSPD - Änderung des Bundesvertriebenengesetzes

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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute ist ein sehr wichtiger Tag für Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedler; denn die vorliegende Änderung des Bundesvertriebenengesetzes ist ein Meilenstein für die Betroffenen. Viele Menschen haben in den letzten eineinhalb Jahren aufgrund eines Urteils des Bundesverwaltungsgerichts eine Ablehnung ihres Aufnahmeantrags erhalten. Mit dem vorliegenden Entwurf wollen wir eine gravierende Lücke im Gesetz schließen und damit auch die Aufnahmepraxis wieder an die Lebensrealität der Menschen anpassen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Doch worum geht es genau? Das Bundesvertriebenengesetz, das wir mit dem vorliegenden Entwurf ändern möchten, trägt die Handschrift der Nachkriegszeit. Den Trümmern der Gewalt und den Schrecken des Zweiten Weltkrieges zum Trotz haben sich damals Menschen aufgemacht, unseren neuen demokratischen Staat zu gestalten und die Kriegsfolgen zu mildern. Die Mütter und Väter des Gesetzes verfolgten das Ziel, die millionenfache Flucht und Vertreibung von Menschen in unsere Gesellschaft zu ordnen. Das BVFG regelt bis heute die Verteilung, die Rechte und die Anliegen der Heimatvertriebenen, Aussiedler und Spätaussiedler.

Sie alle kennen den geschichtlichen Verlauf: die Nachkriegszeit, die Teilung Deutschlands, den Kalten Krieg. All das sind Gründe dafür, dass es den Angehörigen der deutschen Minderheiten in Mittelosteuropa sowie den Staaten der ehemaligen Sowjetunion erst mit der Öffnung des Eisernen Vorhangs möglich war, in die Bundesrepublik einzureisen. Die Aufnahme der Spätaussiedler läuft bis heute und wird durch das BVFG geregelt.

Im Zentrum der Aufnahme steht dabei auch bis heute das Kriegsfolgenschicksal. Denn spätestens nach dem Überfall der Nationalsozialisten auf die Sowjetunion wurden die Angehörigen der deutschen Minderheiten, die zuvor über Generationen hinweg in den Gebieten der Sowjetunion lebten, kollektiv in Sippenhaft für die schrecklichen Verbrechen der Nazis genommen. Sie wurden verfolgt, enteignet, deportiert und mussten schlimmste Zwangsarbeit leisten. Auch nach dem Krieg folgten Diskriminierung und ein Leben unter Kommandantur.

Weil sich die Bundesrepublik für das Leid dieser Menschen verantwortlich fühlt, regelt das Bundesvertriebenengesetz deren Aufnahme und Eingliederung in das berufliche, kulturelle und soziale Leben in Deutschland. Und das ist heute genauso richtig wie damals.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der Abg. Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Auch meine Familie und ich sind Ende der 90er-Jahre als Spätaussiedler aus Sibirien nach Deutschland gekommen. Meine Vorfahren waren Wolgadeutsche. Sie wurden unter menschenunwürdigen Bedingungen in Viehwaggons nach Sibirien deportiert. Meine Schwester und ich sind dort geboren. Ohne das Aufnahmeprogramm und meine Anerkennung als sogenannter Abkömmling könnte ich heute nicht hier stehen und vor Ihnen als Abgeordnete im Deutschen Bundestag sprechen.

Wer als Spätaussiedler nach Deutschland kommen möchte, muss Voraussetzungen erfüllen und darf erst nach einem positiven Aufnahmebescheid in die Bundesrepublik einreisen. Er muss die deutsche Abstammung, deutsche Sprachkenntnisse und ein im Herkunftsland abgegebenes Bekenntnis zum deutschen Volkstum nachweisen.

Seit Anfang des letzten Jahres werden den Antragstellenden durch die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts erhöhte Anforderungen vorgegeben, was zu einer nicht akzeptablen Schieflage führt. Menschen, die nach früherer Lesart des Gesetzes Spätaussiedler hätten werden können, müssen abgelehnt werden, und dies nur, weil bei ihnen zu irgendeinem früheren Zeitpunkt eine nichtdeutsche Nationalität in irgendwelchen amtlichen Dokumenten eingetragen wurde, was aber oft gängige Verwaltungspraxis war.

Die Vorgaben des Bundesverwaltungsgerichts werden der Lebensrealität der Menschen nicht gerecht. Eine einmal vorgenommene Eintragung der nichtdeutschen Volkszugehörigkeit kann verschiedene Gründe haben. Sie bedeutet keineswegs, dass die betroffenen Menschen sich nicht als deutsche Volkszugehörige fühlen. Sie wollen sich auch nicht von ihrer deutschen Abstammung distanzieren. Im Gegenteil: Oft sind es Menschen, die sich vor Ort in den Organisationen der deutschen Minderheiten einbringen und die deutsche Sprache sprechen. Sie identifizieren sich als Deutsche, und zwar sichtbar für ihre Umgebung und die staatlichen Stellen. Davon kann ich mich immer wieder bei meinen Besuchen in den Aussiedlungsgebieten selbst überzeugen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir vom Bundesvertriebenengesetz sprechen, sprechen wir daher nicht von einer abstrakten Regelung. Wir sprechen von Menschen und ihren Schicksalen. Und das ist keine Vergangenheit, sondern ganz konkrete Gegenwart.

Ich habe, unterstützt von vielen Aussiedlerorganisationen, lang und hart für dieses Änderungsgesetz gekämpft. Wie Sie sich sicherlich vorstellen können, ist die Situation für die deutschen Minderheiten seit dem schrecklichen Krieg Russlands gegen die Ukraine nicht besser geworden; ganz im Gegenteil. Die Menschen fürchten um ihre Sicherheit, um ihr Leben, um ihre Angehörigen. Das darf uns keineswegs kaltlassen, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Unsere Solidarität mit den Betroffenen darf nicht an Bürokratie scheitern. Daher passen wir das Recht an, um unkompliziert helfen zu können. Zur Unterstützung der Menschen, die aufgrund des Krieges in der Ukraine oder aufgrund von Repressionen in Russland das Anerkennungsverfahren nicht vom Herkunftsgebiet aus machen können, sieht das Gesetz ein Härtefallverfahren vor. Es ermöglicht den Betroffenen, das Verfahren von hier aus zu durchlaufen.

Ich weiß, dass einige Menschen Schwierigkeiten haben, die Nachweise innerhalb von sechs Monaten zu erbringen. Insbesondere der Nachweis des B1-Sprachniveaus, den Antragsteller erbringen müssen, die keine Nationalitätenerklärung nachweisen können, ist für viele problematisch. Bei dieser Frage stehe ich im engen Austausch mit dem BMI und den Verbänden.

Vor dem Hintergrund der Systematik und des Schutzzwecks des BVFGs, aber auch vor dem Hintergrund des Gleichbehandlungsgrundsatzes handelt es sich hier um eine hochkomplexe Rechtsangelegenheit, die leider nicht so einfach rechtssicher zu lösen ist. Es ist wichtig, dass wir diese Angelegenheit auch im weiteren parlamentarischen Verfahren konstruktiv thematisieren.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, gerne möchte ich mich für die breite Unterstützung bei Aussiedlerfragen auch in diesem Hause bedanken. Doch bei allem Verständnis für Oppositionsarbeit: Manche Ihrer Äußerungen in den vergangenen Monaten waren meinem Eindruck nach Oppositionsarbeit auf dem Rücken der Betroffenen. Ich würde mich freuen, wenn bei aller politischen Konkurrenz nicht noch mehr Verunsicherung in einer sowieso schon unsicheren Zeit geschürt würde. Es gibt politische Themen, die es erfordern, überparteilich an einem Strang zu ziehen. Das Bundesvertriebenengesetz ist so ein Thema.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Zu viele Antragstellerinnen und Antragsteller wurden in den letzten eineinhalb Jahren durch eine Ablehnung vor den Kopf gestoßen. Umso mehr freue ich mich, dass das Bundesministerium des Innern und für Heimat unter Bundesministerin Nancy Faeser schnell reagiert hat und in Rekordtempo die Formulierungshilfe für die Änderung des Bundesvertriebenengesetzes vorgelegt hat

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Christoph de Vries [CDU/CSU]: Zwei Sätze in anderthalb Jahren!)

und wir nun endlich die notwendigen Änderungen auch hier im Bundestag behandeln.

Lassen Sie uns gemeinsam und konstruktiv schnelle Lösungen für die Betroffenen auf den Weg bringen und dort helfen, wo Hilfe benötigt wird.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Für die Unionsfraktion hat das Wort Christoph de Vries.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7591203
Wahlperiode 20
Sitzung 125
Tagesordnungspunkt Änderung des Bundesvertriebenengesetzes
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