Franziska KerstenSPD - Änderung des Chemikaliengesetzes
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Änderung des Chemikaliengesetzes ist innerhalb der Koalition unstrittig. Insbesondere die Anpassungen hinsichtlich der Guten Laborpraxis und des Bußgeldblanketts sind eher technische Anforderungen, die an EU-Vorgaben angepasst werden. Was strittig ist, aber auch nur zwischen Bund und Ländern, ist die Einrichtung eines zentralen Vergiftungsregisters.
Die neue Regelung kurz zusammengefasst: Stellen Sie sich vor: Ihr Kind, Ihre Partnerin oder Ihr Kollege zeigt Vergiftungserscheinungen. Dann rufen Sie beim Giftnotruf bzw. einem der sieben Giftinformationszentren an. Die Zentren nehmen die Daten zum Fall auf und helfen Ihnen. Bisher wurde dies auf Länderebene erhoben, aber nie zentral zusammengeführt und ausgewertet. Das soll jetzt durch das neue Vergiftungsregister möglich sein.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)
Die Giftinformationszentren sollen zu allen eingehenden Anfragen zur Vergiftung durch Pilze, Chemikalien, Pflanzenschutzmittel, Biozide oder andere chemische Stoffe die Daten systematisch erfassen und an das Bundesinstitut für Risikobewertung weiterleiten, mit Ausnahme von Anträgen zu Vergiftung durch Arzneimittel, Betäubungsmittel und alkoholischen Getränken; das wird anderswo registriert und ist außerdem schon ausreichend reguliert.
Das Register ist beim BfR angesiedelt, dem Institut, das den gesetzlichen Auftrag hat, Verbraucher/-innen zu schützen und Lebensmittel, Stoffe und Produkte sicher zu machen. Durch die bessere Datenbasis verbessern wir unseren Kenntnisstand über sonstige stoffliche Vergiftungen. Das sind beispielsweise Vergiftungen durch neue psychoaktive Substanzen, Lebensmittelvergiftungen durch Toxine sowie Vergiftungen durch Pflanzen oder Pilze.
Nicht zuletzt kommen wir so der EU-Pflicht nach, einen Überblick über das Vergiftungsgeschehen in Deutschland zu haben. So verbessert sich die Wissensbasis für die Vergiftungsberatung, und wir sorgen so für eine echte Risikokommunikation. Das Register ist also wichtig, damit wir rechtzeitig Gefahren erkennen und einen Überblick über das Vergiftungsgeschehen in Deutschland bekommen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)
Meine Damen und Herren von der Union, Sie haben kritisiert, dass hier zusätzlicher bürokratischer Aufwand entsteht und das Vergiftungsregister unnötig sei. Die Idee stammt aus der letzten Legislaturperiode. Da fanden Sie die Idee noch gut. Insofern staune ich über Ihren Sinneswandel.
Über die Sommerpause wurde ein guter Kompromiss mit den Ländern erarbeitet. Es wurden einige Details der Datenerhebung gestrichen, sodass weniger Aufwand entsteht. Einige Kategorisierungen übernimmt das BfR, also direkt der Bund, und die Länder sind damit entlastet.
Außerdem wurde die Umsetzungsfrist um ein Jahr verlängert. Wir sind den Ländern ein gutes Stück entgegengekommen. Ich zähle auf die Länder, dass sie dem Kompromiss im Bundesrat nun auch wirklich zustimmen. Denn wir alle haben ein Ziel: mehr Transparenz, mehr Informationen über Stoffe, die unsere Bürgerinnen und Bürger gefährden können. Dafür ist das Register extrem wichtig.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)
Als Berichterstatterin für die Chemikaliensicherheit habe ich noch ein bisschen Redezeit und würde diese gerne nutzen, um noch allgemein zum Thema Chemikalienregulierung Stellung zu nehmen.
(Reinhard Houben [FDP]: Acht Minuten ungefähr, Frau Kollegin!)
Denn so oft haben wir hier nicht die Gelegenheit dazu.
Chemie ist im Alltag wichtig, notwendig und nicht wegzudenken. Wenn wir alles, was Chemie ist, aus diesem Plenarsaal verbannen würden, wären hier wahrscheinlich nur noch meine geschätzten Kolleginnen und Kollegen von der Grünenfraktion korrekt angezogen.
(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der FDP und der LINKEN – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Na, das wage ich zu bezweifeln!)
Aber wie können wir mit Chemikalien gut und gesund leben? Wie können wir als Politik diese präzise Abwägung in Gang setzen?
Diese Woche war Weltchemikalienkonferenz in Bonn. Das zeigt, dass das Thema Chemikalien, obwohl es in der öffentlichen Debatte oft hinten runterfällt, extrem relevant ist. Auch der Chemiegipfel im Kanzleramt gestern zeigte, dass wir Sozialdemokraten die Bedeutung der Industrie erkannt haben.
Natürlich ist die Debatte über chemische Formeln und Verbindungen nicht auf den ersten Blick attraktiv. Aber ich fand schon den Chemieunterricht früher sehr spannend und habe die Möglichkeiten meines Chemiebaukastens manchmal überreizt.
(Heiterkeit und Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)
Denn Chemikalien sind der Grundstein für alles um uns herum.
Lassen Sie mich deshalb noch einige Worte zur Bedeutung der chemischen Industrie sagen. Unsere heimische chemische Industrie liefert die Grundstoffe für alle weiteren Prozesse. Kein Auto, kein Putzmittel, kein Essen, kein Gebäude entsteht ohne chemische Industrie.
(Zuruf von der AfD: Doch!)
Sie bietet viele tariflich gebundene Arbeitsplätze. Allein in Ostdeutschland arbeiten fast 55 000 Menschen in der Chemieindustrie, zu 95 Prozent in kleinen und mittleren Unternehmen.
Die Branche steht gleichzeitig vor einem der größten Transformationsprozesse in ihrer Geschichte. Wir müssen Klimaneutralität bis 2045 erreichen. Ich begrüße deshalb sehr den „Chemistry for Climate“-Prozess, der, von Chemiefirmen bis NGOs, verschiedenste Stakeholder zusammengebracht hat, um neue Wege für die Branche aufzuzeigen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)
Das ist auch nötig; denn die stoffliche Belastung unserer Umwelt ist neben der Klima- und Biodiversitätskrise die dritte große Menschheitskrise. Die planetaren Grenzen sind, wie wir schon gehört haben, längst überschritten. Gleichzeitig sind Chemikalien aus Industrie, Medizin, Landwirtschaft etc. nicht wegzudenken, und das wird mit steigender Bevölkerungszahl nicht ab-, sondern eher zunehmen. Chemikalien müssen in Zukunft deshalb Teil der Lösung sein, von Anfang an also „safe and sustainable by design“. Dies ist eine große Aufgabe für die Chemieindustrie. Die Transformation müssen wir auch politisch begleiten.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Ein Thema, das in den letzten Monaten die Gemüter stark erhitzt hat, sind die sogenannten PFAS, kurz für: per- und polyfluorierte Alkylsubstanzen. PFAS sind extrem langlebige chemische Verbindungen, bei denen die Wasserstoffatome durch Fluoratome ausgetauscht wurden. Sie haben dadurch ganz besondere Eigenschaften: Sie sind wasser-, fett- und schmutzabweisend und werden deswegen in der Industrie zum Beispiel in Rohren verwendet, wo nichts anhaften darf. Aber es gibt auch Beispiele, die uns im Alltag bekannter sind: Schutzkleidung für Feuerwehrleute, Outdoorjacken oder Zelte, Brillengläser, Rohre in Kaffeemaschinen und die immer wieder genannte Teflonpfanne bestehen aus PFAS.
Was ist dann das Problem? PFAS sind Ewigkeitschemikalien. Sie sind so extrem stabil, dass sie in der Umwelt nicht abgebaut werden. Mittlerweile haben wir schon fast überall auf der Welt, von den Alpen bis zur Antarktis, PFAS nachgewiesen. Und da sich PFAS nicht von alleine abbauen, nimmt ihre Konzentration in der Umwelt zu. Gleichzeitig werden für einige PFAS gesundheitliche Gefahren nachgewiesen. Die wirken teilweise krebserregend oder schädigen den Hormonhaushalt, schädigen Leber oder Niere und behindern die Reaktion des Körpers auf Impfungen.
Insbesondere möchte ich auf die Europäische Human Biomonitoring Initiative, kurz HBM4EU, hinweisen; ein europäisches Forschungsprojekt mit 116 Partnern aus 30 Ländern, die die Chemikalienbelastung in Europa eingeschätzt haben. Aufgabenstellung des Forschungsprojekts waren mehr Daten zur Exposition von Menschen gegenüber diesen Chemikalien und zu den gesundheitlichen Folgen dieser Expositionen, mit dem Ziel, die Politik zu beraten, welche rechtlichen Regelungen wirklich angepasst werden sollten. Ergebnis: In 14 Prozent der untersuchten Altersgruppe der Teenager überstieg der PFAS-Wert die tolerable tägliche Aufnahmemenge; in einigen Teilen der EU-Bevölkerung sind wir über den Richtwerten der EFSA. Die höchsten Belastungswerte wurden sogar in Nord- und Westeuropa gefunden; diese Werte gelten als Richtwerte, die noch als gesundheitlich unbedenklich gelten. Das gibt uns als Politik die klare Aufgabe, diese Stoffgruppe zu regulieren.
Für die beiden PFAS, die aufgrund ihrer Gefährlichkeit schon von der EU verboten sind, PFOS und PFOA, sehen wir aber, dass die Werte abnehmen, wenn eine Regulierung erfolgt. Das ist also viel effektiver, als wenn man nichts dagegen macht.
Für viele andere PFAS fehlen noch Daten. Auch die PFAS, die aktuell noch zugelassen sind, können also in Zukunft Probleme verursachen. Die SPD vertritt das Vorsorgeprinzip und sieht, dass wir jetzt handeln müssen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Das Umweltbundesamt hat mit Umweltbehörden von vier anderen EU-Mitgliedstaaten ein PFAS-Beschränkungsdossier erarbeitet und bei der EU eingereicht.
In der Wirtschaft gibt es natürlich viele Sorgen; denn PFAS spielen eine zentrale Rolle für Technologien der Zukunft wie Halbleiter oder Windkraftanlagen. Deshalb möchte ich hier einige Dinge klarstellen.
Das Beschränkungsverfahren wurde aufgrund der extremen Langlebigkeit der PFAS eingeleitet; Langlebigkeit ist praktisch die Haupteigenschaft dieser Stoffe. Ausweichbewegungen zu einem anderen Stoff, wenn man also nur einzelne Produkte verbietet, würden nicht helfen, weil das vielleicht weniger erforschte Stoffe der PFAS-Gruppe wären. Das Beschränkungsverfahren sieht also vor, dass alle PFAS-Anwendungen, für die wir gute Alternativen haben, verboten werden; eventuell also doch wieder die gusseiserne Pfanne statt der Teflonpfanne und gewachste Outdoorjacken wie bei Fischern.
Für andere Anwendungen, für die wir noch keine Alternativen haben, gibt es Übergangsfristen, in denen nach anderen Materialien geforscht werden soll. Diese Forschungen müssen wir staatlich fördern. Es gibt nämlich viel mehr Fälle, in denen es Alternativen gibt. Zum Beispiel habe ich letzte Woche gelernt, dass man Batterien auch ohne PFAS herstellen kann. Unternehmen müssen PFAS-Alternativen als Investition in die Zukunft erkennen. Gleichzeitig müssen wir sie aber auch vor Importen aus dem EU-Ausland schützen.
Zum Abschluss ein Appell an das Wirtschaftsministerium und an das Umweltministerium: Wir brauchen eine politische Strategie. Wir müssen jetzt klären, welche Anwendungen für unsere Gesellschaft unerlässlich sind, und wir müssen jetzt die politische Debatte beginnen. Wir brauchen mehr Forschung, ein klares Bekenntnis zu unserer chemischen Industrie, aber auch zum Umweltschutz.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Rainer Kraft für die AfD-Fraktion.
(Beifall bei der AfD)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7591244 |
Wahlperiode | 20 |
Sitzung | 125 |
Tagesordnungspunkt | Änderung des Chemikaliengesetzes |