19.10.2023 | Deutscher Bundestag / 20. WP / Sitzung 131 / Tagesordnungspunkt 35

Gerald UllrichFDP - Bericht zum Stand der Deutschen Einheit 2023

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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Bürger! Ich hoffe, ich kann ein klein wenig zur Aufklärung dessen, was wirkliche Demokratie ist, beitragen. Nicht dass das im Raum stehen bleibt und wir denken, dass wir hier gerade Demokratie erlebt hätten.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Jürgen Braun [AfD]: Verschiedene Meinungen sind Demokratie! Kritik an der Regierung ist Demokratie! Das ist Demokratie, nicht Ja sagen zur Regierung! Ja sagen zur Regierung ist nicht Demokratie! – Zuruf des Abg. Dr. Malte Kaufmann [AfD])

Ich bin 1962 geboren. Zum Zeitpunkt des Mauerfalls war ich gerade 28 Jahre alt. Ich habe meine komplette Sozialisierung in der DDR erfahren: Kindergarten, Schule, Studium, Armeezeit. Ich habe auch meine Hochzeit und die Geburt meines ersten Kindes in der DDR erlebt. Ich komme aus einem liberalen Elternhaus, aber trotzdem kann ich Ihnen sagen: Ich bin ein Vollblutossi. – Das sage ich auch sehr gerne.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir wussten alle, dass es in der DDR so nicht weitergehen kann; das war uns völlig klar. Aber keiner glaubte unbedingt an die Veränderungen, die dann mit dem Mauerfall kamen. Meine ersten Besuche in der damaligen Bundesrepublik, in den alten Bundesländern, waren für mich, trotzdem wir zu Hause Westfernsehen hatten, schon ein kleiner Kulturschock; das gebe ich zu. Ich denke an die Autos, ich denke an die Häuser, an die Wohnungen, an die Straßen, an die Infrastruktur, an die sauberen Städte, die ich gesehen habe, und an die Gerüche. Ich denke auch an die Autos, an die Straßen, an die Wohnungen, an die Städte und an die Gerüche in der Heimat, in die es wieder zurückging. Seitdem, seit 1990, weiß ich erst, wie ein Trabi und ein Wartburg riechen. Vorher habe ich das nicht gerochen; das ist eben so. Das ging aber nicht nur mir so, das ging Millionen DDR-Bürgern so.

Das, was dann kam, ist unumstritten für DDR-Bürger nicht unbedingt angenehm gewesen: Betriebsschließungen, Kurzarbeit null, ABM. Das sind alles Dinge, die die Sicht auf das Leben verändert haben, die wirklich auch Brüche dargestellt haben. Wir wurden vom Westen alimentiert; das weiß jeder im Osten. Das meine ich nicht als Kritik. Es gab keine andere Möglichkeit; denn auch wirtschaftlich war der Osten eine Ruine. Wer aber nicht selbst irgendwann mal das Gefühl hatte, zu ertrinken, der weiß gar nicht, wie das ist, wie man das beschreiben kann, und der sollte auch nicht versuchen, das jemand anderem zu erklären.

So ähnlich ist es, wenn man versucht, uns Ostdeutschen mit unserer anderen Sicht darauf die Geschichte der Einheit zu erklären. Die Menschen in den alten Bundesländern lebten in einer freiheitlichen Demokratie, und das ist auch gut so. Wir lebten in einer unfreien Diktatur. Heute leben wir alle in Freiheit. Aber die Sicht auf die Demokratie und auf das, was wir damit tun, ist nach wie vor leicht unterschiedlich. Das hat auch wirklich eine Wirkung, und das hängt mit der Wende zusammen. Ein großer Liberaler sagte mal sinngemäß: Die Freiheit verliert man nicht an einem Tag; man verliert sie in kleinen Stücken, man verliert sie scheibchenweise, Stück für Stück.

(Bernd Schattner [AfD]: Das sieht man bei der heutigen Politik!)

Auch die Bevormundung kann als Freiheitsverlust empfunden werden. Und da kommen wir zu des Pudels Kern: Wer diesen Freiheitsverlust niemals wirklich selbst am eigenen Leib erfahren hat, der kann ihn auch nicht erklären, und er sollte es vielleicht auch gar nicht versuchen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

So viel zur Historie.

Aber kommen wir zum Hier und Jetzt.

(Fabian Gramling [CDU/CSU]: Jetzt wird’s spannend!)

Was mir schon 1990 auffiel, wenn ich Reisen in die alten Bundesländer gemacht habe, das war dieser riesengroße soziokulturelle Unterschied. Es ist ein großer Unterschied, ob man in Rosenheim wohnt oder ob man in Flensburg wohnt. Das war früher schon so. Es ist auch heute ein großer Unterschied, ob man in Schmalkalden wohnt – da, wo ich herkomme – oder ob man in Kühlungsborn wohnt. Es ist ein großer Unterschied, ob man in Dresden oder in Köln wohnt. Ich finde, das ist auch gut so. Das Unerträglichste für mich wäre, wenn wir in einer kulturellen Käseglocke leben würden, die uns einige hier in diesem Parlament gerne überstülpen würden. Das wäre für mich ein Schock. Das wäre eigentlich eher ein Grund zum Auswandern.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der SPD – Dr. Malte Kaufmann [AfD]: Wer will denn das? Das sind Gespenster! – Dr. Markus Reichel [CDU/CSU]: Alles Allgemeinplätze!)

Was können wir aber tun, damit das Ganze besser wird? Ich hätte da ein paar Vorschläge:

Erstens – das wurde auch schon gesagt; vielen Dank an Sie –: Es gehören wesentlich mehr Ostdeutsche in Führungspositionen in der Politik, in der Wirtschaft, in der Kultur, überall, wo es sie gibt. Wir brauchen vergleichbare Lebensverhältnisse. Und ja, Herr Müller, wir brauchen auch gleiche Löhne für gleiche Arbeit. Aber die ist nicht immer gleich; das müssen wir auch sagen. Das ist auch eine Frage der Produktivität, an der wir im Osten noch stark arbeiten müssen.

Zweitens müssen wir die Probleme lösen. Und Migration ist ein Problem, das wir lösen müssen. Wir können sie aber nicht einfach von heute auf morgen abstellen. Wir müssen unter den Demokraten in diesem Hause dafür sorgen, dass wir eine Lösung bei der Migration hinkriegen und dass wir gleichzeitig auch die Fachkräfteproblematik in unserem Land lösen.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP – Stephan Brandner [AfD]: Wie sieht Ihre Lösung aus? Machen Sie doch mal einen Vorschlag! Werden Sie mal konkret!)

Zum Schluss habe ich noch einen ganz konkreten Vorschlag. Auch wenn es manchen zu den Ohren raushängt: Wir haben in Deutschland das Problem mit dem Besserstellungsverbot bei den gemeinnützigen Einrichtungen. Wir sind im Rahmen der anstehenden Haushaltsberatungen und des Haushaltsgesetzes in der Lage, dieses Problem mit zwei Sätzen zu lösen. Wenn wir uns in den regierungstragenden Fraktionen zusammentun, dann können wir das auf einen Schlag. Darum bitte ich Sie bei den anstehenden Haushaltsverhandlungen.

Kollege Ullrich.

Dann wird es wieder ein Stück aufwärtsgehen mit Ostdeutschland.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das Wort hat Dr. Dietmar Bartsch für die Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7602258
Wahlperiode 20
Sitzung 131
Tagesordnungspunkt Bericht zum Stand der Deutschen Einheit 2023
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