Katrin BuddeSPD - Bericht zum Stand der Deutschen Einheit 2023
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch wenn es absolut richtig ist, dass es schwerpunktmäßig um die Sichtbarmachung des Prozesses der Wiedervereinigung mit Schwerpunkt Osten geht, ist es im Jahr 33 nach der Wiedervereinigung nicht mehr genug, diesen Prozess nur einseitig zu sehen. Das Land von heute ist nicht mehr das Land von 1990. Wir haben 33 Jahre gemeinsamer Entwicklung hinter uns. Und die Welt ist auch nicht mehr die von 1990, sondern die von 2023 – mit ungeahnten Kriegen, mit einer weltweit durchlebten Pandemie, mit einer dramatisch veränderten weltweiten Klimasituation, mit Flüchtlingsbewegungen überall auf der Welt und mit einem überall auf der Welt erstarkenden Nationalismus, Rechtsradikalismus, Rassismus und einer steigenden Intoleranz. In diesem Alltagsumfeld müssen wir den Bericht lesen, werten, bewerten und unsere Aufgaben sehen.
Ja, viele Schritte – auch der Angleichung – sind gegangen worden, und doch fühlt es sich für viele Ostdeutsche nicht so an. Warum ist das so? Ein Beispiel: Ein richtiges Fazit des Berichtes ist, dass es die strukturellen Unterschiede nicht nur zwischen Ost und West gibt, sondern auch zwischen Stadt und Land. Aber gibt es in den alten Ländern auch so viele Klein- und Mittelstädte, die in den vergangenen Jahren mehr als die Hälfte ihrer Bevölkerung verloren haben, die zum Beispiel von 38 000 Einwohnern in 1990 auf 17 000 Einwohner in 2023 geschrumpft sind, wo zwei ganze Generationen fehlen?
(Sepp Müller [CDU/CSU]: Ja!)
Der Vertrauensverlust im Osten reicht übrigens sehr weit zurück, nämlich bis zum Versprechen von Helmut Kohl von den blühenden Landschaften im Osten. Unter dieser Wucht der Enttäuschungen und schweren Alltagserfahrungen vergessen wir – nicht nur wir vergessen ihn, sondern auch alle anderen – zu oft den Wert, den ausschließlich wir Ostdeutsche errungen haben, kein Björn Höcke – der war westdeutscher Pennäler zu der Zeit –, keine AfD. Wir Ostdeutsche haben die Freiheit und die Demokratie erkämpft. Schauen wir uns in der Welt um, sehen wir, was passiert, wenn beides verloren geht; das ist gruselig. Aber wir sehen auch, wie stark Demokratien sind, zum Beispiel in Polen, wo auf dem Weg in autokratische Strukturen umgekehrt werden kann.
Deshalb, meine Damen und Herren, will ich das Thema „Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und Europäische Transformation“ noch ansprechen. Es ist eines der wichtigsten Projekte für uns. Ich höre auch das Gemurmel hinter vorgehaltener Hand: Wieder ein Prestigeprojekt für die Ossis! – Nein, nicht für die Ossis, sondern für alle,
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)
für alle deutschen Bürgerinnen und Bürger und für alle, die in Deutschland leben. Wir müssen aus den Brüchen der letzten Jahre in Ostdeutschland und Mittel- und Osteuropa lernen. Es geht darum, was es mit uns Menschen gemacht hat. Es geht darum, zu verstehen, warum junge Menschen keine Angst mehr vor einer Diktatur haben. Es geht um ganz viel. Es geht um Gespräche zwischen Ost und West, Jung und Alt und um das Gespräch im neuen Europa. Wir alle brauchen einen solchen Ort dringend, damit auch wir aus unseren Blasen herauskommen. Wir brauchen ganz viel analoge Kommunikation miteinander, und wir brauchen – das sage ich mit Blick auf das Bundesfinanzministerium – das Geld dafür.
Ein Wort zu Frau Schenderlein. Die deutsche Wiedervereinigung „verjährt“ nicht. Was ist denn das für eine Sprache? Und, Herr Ullrich, nein, wir wurden nicht alimentiert. Wir haben den Soli immer bezahlt. Wir haben die Fachkräfte nach 1990 in den Westen geschickt; darum fehlen die zwei Generationen. Die Infrastruktur im Osten ist von westdeutschen Firmen aufgebaut worden. Wir haben ganz viel eingebracht; aber alimentiert worden sind wir ganz sicher nicht.
(Beifall bei der SPD – Gerald Ullrich [FDP]: Doch, sehr wohl!)
14 Sekunden mehr ist auch egal. Vielen Dank, Frau Kollegin Budde. – Nächster Redner ist der Kollege Alexander Hoffmann, CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7602268 |
Wahlperiode | 20 |
Sitzung | 131 |
Tagesordnungspunkt | Bericht zum Stand der Deutschen Einheit 2023 |