Annette Widmann-MauzCDU/CSU - Errichtung eines Dokumentationszentrums 2. Weltkrieg
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Empörung in der Bevölkerung vor 80 Jahren sei groß gewesen, „da man allgemein das Empfinden hatte, dass ein großes Unrecht hier geschehen war“. So wird der ehemalige Kusterdinger Pfarrer Emil Martin im „Schwäbischen Tagblatt“ vom vergangenen Samstag zitiert. Worum geht es? Theodor Kalymon aus Nowosilka im Kreis Lemberg – heute Lwiw, in der Ukraine – wurde 1942 als Zwangsarbeiter auf die Schwäbische Alb deportiert und einem Bauernhof in Kusterdingen zugeteilt. Die Bauersfamilie war mit seiner Arbeitsleistung wohl nicht zufrieden und wünschte sich einen anderen Zwangsarbeiter. Ein Tausch aber war nicht so einfach möglich. Der Bauer zeigte daraufhin Kalymon beim Ortspolizisten an. Der Vorwurf: Er habe sich gegenüber der Tochter unangemessen verhalten. Ob dieser Vorwurf berechtigt oder vorgeschoben und dem Bauern bewusst war, was er damit auslöste, bleibt offen. Am 12. Mai 1943 wurde Theodor Kalymon im Alter von 20 Jahren von der Gestapo hingerichtet – erhängt an einem Galgen vor den Augen der anderen Zwangsarbeiter. Jahrzehntelang schwiegen viele Bewohner über diese Ereignisse. Doch die Scham über die Mitverantwortung an der Hinrichtung ist bis heute in Zeitzeugengesprächen zu spüren.
Dieses Schicksal aus meinem Wahlkreis ist nur eines in der furchtbaren Geschichte des Zweiten Weltkriegs. In seiner ukrainischen Heimat ermordeten bereits zwei Jahre zuvor deutsche Soldaten fast 34 000 jüdische Menschen in Babyn Jar. Das Menschheitsverbrechen des Holocaust begann also nicht erst in den deutschen Vernichtungslagern, sondern bereits auf dem Eroberungs- und Vernichtungsfeldzug der Wehrmacht in den Tälern und Wäldern im Osten Europas.
Was sich im kollektiven Gedächtnis zum Beispiel der ukrainischen oder der polnischen Gesellschaft eingebrannt hat, ist vielen bei uns kaum bekannt. Während im deutschen kollektiven Gedächtnis vor allem der Krieg im Vordergrund steht, sind es in vielen europäischen Ländern vorrangig die traumatischen Erfahrungen unter der Besatzungsherrschaft. Sie, die Opfer des Zweiten Weltkriegs und der deutschen Besatzungsherrschaft in Europa, ihre Schicksale und ihr Leid sind der Ausgangspunkt, und sie stehen im Mittelpunkt des erinnerungspolitischen Vorhabens, das wir heute auf den Weg bringen werden.
Auch ich möchte meinen Kolleginnen und Kollegen von der SPD, dem Bündnis 90/Den Grünen und der FDP danken. Nach der Anhörung im Kulturausschuss haben wir eine gemeinsame Entschließung erarbeitet, die dem Hohen Haus heute zur Abstimmung vorliegt. Wir bekennen uns darin zu einem Dokumentationszentrum und Erinnerungsort in der Mitte Berlins, der diesen schmerzlichen Teil der Geschichte in seiner ganzen europäischen Dimension umfassend aufarbeitet, an das große Leid und die grausamen Verbrechen im Nationalsozialismus angemessen erinnert und der Millionen Opfer würdig gedenkt.
Von Norwegen bis Griechenland, vom Atlantik bis tief ins Innere der damaligen Sowjetunion haben Menschen die deutsche Besatzung, Leid und Entbehrung zum Teil sehr unterschiedlich erfahren. Diesen Unterschieden in der Konzeptionierung auch ausreichend Rechnung zu tragen, ist uns wichtig und bei der Umsetzung deshalb sicherzustellen. Und auch innerhalb der besetzten Gesellschaften gab es Unterschiede – individuelle und kollektive. Das Dokumentationszentrum soll den Fokus auf das große Leid der Zivilbevölkerung in ganz Europa richten. Hunger, Ausbeutung, Wohnungsnot und ständige Bedrohungen durchzogen auf vielfältige Weise den Alltag. Mord und Genozid, Zwangsarbeit und Lagerhaft, Raub, Zerstörung und Plünderungen, Ausbürgerung und Staatenlosigkeit gehörten zu den zentralen Gewalterfahrungen unter deutscher Besatzungsherrschaft. Jüdinnen und Juden, Sinti und Roma und andere waren davon ganz besonders betroffen.
Auch bisher weniger beachtete Opfergruppen sollen explizit sichtbar gemacht und ihrer gedacht werden, zum Beispiel Kinder und Frauen, die im Krieg von Soldaten und Besatzern systematisch vergewaltigt wurden. Sie haben ihr Leid oft aus Scham ein Leben lang wortlos ertragen.
Die konsequent gesamteuropäische Perspektive dieses einzigartigen Projekts braucht den kontinuierlichen Austausch, die intensive wissenschaftliche Kooperation und den europäischen Dialog mit Opfervertretungen und Initiativen aus der Zivilgesellschaft. Um die Bevölkerung aber in der Breite zu erreichen, müssen wir auch neue didaktische Wege der Wissensvermittlung gehen und ortsungebunden auf sie zugehen. Wichtig ist uns, Doppelstrukturen zu den bestehenden Gedenk-, Erinnerungs- und Informationsorten zu vermeiden.
Das ZWBE, wie wir es abkürzen, ist in Konzeption und Dimension das größte und bedeutendste Erinnerungs- und Gedenkprojekt der Bundesrepublik, und der Weg bis zur Errichtung wird ausgesprochen anspruchsvoll. Deshalb setzen wir in der Aufbauphase auf die bestehende Struktur der Stiftung Deutsches Historisches Museum und stellen in einem begleitenden Kuratorium zugleich die Kontinuität bis zur Überführung in die selbstständige Bundesstiftung sicher.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das unsägliche Leid, das Putin über die Zivilbevölkerung in der Ukraine bringt und mit dem die Hamas die Menschen in Israel und die eigene Bevölkerung im Gazastreifen überzieht, steht in grausamer Kontinuität zu den Gräueltaten vergangener Jahrzehnte. In Kusterdingen wurde bereits kurz nach dem Krieg an dem Ort, an dem einst der Galgen stand, ein Holzkreuz errichtet: stummer Ausdruck des Bedürfnisses, das Gedenken an diese dunkle Zeit aufrechtzuerhalten.
Wir können nicht stumm bleiben. Es braucht diesen Ort der Erinnerung und den Raum zum Gedenken, auf dass wir wachsam bleiben, damit es sich nicht mehr wiederhole.
Vielen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)
Und für die SPD-Fraktion hat das Wort Marianne Schieder.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7602379 |
Wahlperiode | 20 |
Sitzung | 131 |
Tagesordnungspunkt | Errichtung eines Dokumentationszentrums 2. Weltkrieg |