19.10.2023 | Deutscher Bundestag / 20. WP / Sitzung 131 / Tagesordnungspunkt 19

Thomas HackerFDP - Errichtung eines Dokumentationszentrums 2. Weltkrieg

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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir können heute nicht über die deutsche Vergangenheit sprechen, über den grausamen Krieg, der von Deutschland ausging, das unsägliche Leid, über Flucht und Vertreibung, den industriell organisierten Massenmord in Gaskammern und durch Erschießungen, die Aufgabe der Menschlichkeit, über die Shoah, wir können heute nicht über unsere Vergangenheit reden, ohne verbittert feststellen zu müssen: Wir sind gescheitert. Wir sind daran gescheitert, die richtigen Lehren zu ziehen, die richtigen Lehren für das friedvolle Zusammenleben von Nachbarn, Menschen und Nationen. Wir sind daran gescheitert, unser immer und immer wiederholtes „Nie wieder!“ – nie wieder Krieg, nie wieder Gewalt, nie wieder Ausgrenzung und Intoleranz, nie wieder Hass – in die Herzen und Köpfe der Menschen in unserem Land und in der Welt einzupflanzen, es mit Leben zu füllen, mit Bewusstsein, Leidenschaft und Begeisterung. Nie wieder!

Die Bilder der letzten Tage und Monate sind grausam. Jeder Konflikt der Welt scheint in fürchterlicher Gewalt zu eskalieren: Krieg in der Ukraine, Bombardierung und Massenflucht in Bergkarabach, der fürchterliche Angriff auf Israel. Und wieder leiden Menschen – Entführungen, Vergewaltigungen, Folter, Hinrichtungen. Babys, Kleinkinder, feiernde Jugendliche, Alte werden bestialisch ermordet – vor laufender Kamera! Die Kriegspropaganda des 21. Jahrhunderts bringt das Grauen in nie gekanntem Ausmaß direkt auf unsere Smartphones – schonungslos, ungefiltert.

All das hat Auswirkungen auf unser Land. Sorgen über die eigene wirtschaftliche Zukunft, Unsicherheit über die weitere Entwicklung der Weltpolitik, Herausforderungen durch die weltweit zunehmende Migration, Demonstrationen und Ausschreitungen, Hass und Gewalt auch auf unseren Straßen – die Sorgen der Menschen sind groß.

Zeiten großer Verunsicherung machen empfänglich für einfache Antworten – für die vermeintlich einfachen Antworten. Rechte Populisten nutzen die Sorge und schüren sie mit Hass und Hetze gegen Ausländer und Migranten und befeuern so auch den zunehmenden Antisemitismus. Dass heute in Deutschland Wohnhäuser jüdischer Mitbürgerinnen und Mitbürger mit Davidsternen gekennzeichnet werden, ist unerträglich. Wir als Gesellschaft müssen uns dem mit ganzer Kraft entgegenstellen.

(Beifall bei der FDP, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Aber wie? Ein Baustein dafür ist sicher das zukünftige Dokumentationszentrum „Zweiter Weltkrieg und deutsche Besatzungsherrschaft in Europa“. Es wird nicht bloß ein weiteres Museum hier in Berlin sein, sondern ein Ort der Information, der Forschung, der Wissenschaft, ein Ort der Bildung, der europäischen Begegnung und der direkten Auseinandersetzung. Es ist gut, dass wir heute das Projekt auf eine neue Stufe heben – gemeinsam aus der großen Koalition der Demokraten heraus. Danke dafür!

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Es ist aber nur ein Baustein. Alle sind gefordert: Kommunen, Länder und Bund. Lehrpläne und Schulunterricht müssen den Fokus stärker auf die Zeit des Nationalsozialismus legen, auf die Parallelen zur heutigen Zeit. Reicht ein Gedenkstättenbesuch im Laufe der Schulzeit aus, um aus jungen Menschen überzeugte und leidenschaftliche Demokraten zu machen? Nein, das kann nur durch lebenslanges Lernen, durch lebenslange Auseinandersetzung erfolgen.

Wir müssen unser Gedenkstättenkonzept überarbeiten, zügig. Wie statten wir unsere Gedenkstätten in ganz Deutschland aus? Welche Bildungsarbeit wollen wir ermöglichen? Wen wollen wir wie erreichen? Junge Menschen kommunizieren und informieren sich in sozialen Netzwerken. Aber erreichen wir sie dort mit unseren erinnerungspolitischen Angeboten? Nein.

Der Historiker Jürgen Zimmerer hat sich kürzlich kritisch mit unserer Erinnerungskultur auseinandergesetzt. Man muss seine Einschätzungen nicht teilen; seine Beobachtungen sollten wir trotzdem diskutieren. Er stellt fest: Die jetzige Erinnerungspolitik richtet sich vor allem an Deutsche, die schon seit Generationen hier leben. – Handgreiflich ausgetragene Streitigkeiten über den Krieg in Nahost auf deutschen Schulhöfen und widerwärtige antisemitische und antiisraelische Demonstrationen in so mancher Großstadt unterstreichen dies.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen uns mit unserem erinnerungspolitischen Handeln der Realität in Deutschland stellen. Wir müssen uns Hass, Hetze und Ausgrenzung entgegenstellen. Wir müssen vor allem handeln.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Dr. Petra Sitte für die Fraktion Die Linke hat nun das Wort.

(Beifall bei der LINKEN)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7602383
Wahlperiode 20
Sitzung 131
Tagesordnungspunkt Errichtung eines Dokumentationszentrums 2. Weltkrieg
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