30.11.2023 | Deutscher Bundestag / 20. WP / Sitzung 141 / Zusatzpunkt 5

Sven Schulze - Aktuelle Stunde: Industriestandort Ostdeutschland

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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich bin sehr dankbar, heute hier zu stehen und zu Ihnen sprechen zu dürfen. Das gilt noch mehr, nachdem ich die Rede von Herrn Pellmann gehört habe. Herr Pellmann, Sie haben vom „Tag der angeblichen Einheit“ gesprochen. Wissen Sie, das ist für mich – ich bin 1979 in Quedlinburg geboren – der wichtigste Tag in meinem Leben nach der Geburt meiner Kinder und meiner Hochzeit. Das gilt für viele Ostdeutsche, und deswegen redet man nicht vom „Tag der angeblichen Einheit“, sondern es ist der Tag der Einheit.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Wir sollten doch froh sein, dass wir wieder ein Deutschland sind. Im Übrigen – ich werde gleich auch was zu Ostdeutschland sagen – gehöre ich der Generation an, die sagt: Wir sollen nicht immer in Ost und West denken; das gehört sich einfach nicht mehr. Wir sind ein Deutschland. Wir sind eine Republik, und wir können stolz darauf sein. Wir haben gemeinsam vieles erreicht.

Bevor ich mit meiner Rede beginne, ein Satz zur AfD; ich lerne ja auch immer wieder was dazu. Ich habe Ihre Rede so verstanden, dass Sie nicht unbedingt erfreut über dieses Intel-Projekt sind.

(Enrico Komning [AfD]: Doch, schon! Aber über die immense Förderung nicht!)

Die Kollegen der AfD im Landtag von Sachsen-Anhalt beeilen sich bei jeder Gelegenheit, zu betonen, wie wichtig dieses Projekt für Sachsen-Anhalt ist. Wofür steht denn jetzt die AfD?

(Enrico Komning [AfD]: Wir reden über 10 Milliarden!)

Sind Sie dafür oder dagegen?

(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Dr. Paula Piechotta [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Sie müssen einfach mal bedenken, dass es nicht immer sinnvoll ist, in die Kameras das eine zu sagen und woanders das andere.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Sehr geehrte Damen und Herren, ich kann dieses Thema, über das wir heute diskutieren, sehr gut auch an meinem Beispiel darstellen. Ich bin 1979 geboren und habe 1998 Abitur gemacht. Ich wollte immer Ingenieur werden. Ich bin das dann auch geworden, habe an der Universität studiert. In der Zeit hat man mir gesagt: Lieber Sven Schulze, wenn du was werden willst, wenn du erfolgreich sein, Karriere machen willst,

(Enrico Komning [AfD]: … dann geh in die Politik!)

dann ist Sachsen-Anhalt, Sachsen, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern oder Thüringen vielleicht nicht der richtige Ort: eine hohe Arbeitslosigkeit, die Perspektiven sind nicht unbedingt rosig. Geh in den Westen oder in den Süden Deutschlands. – Das haben viele auch gemacht. Das war 1998. 25 Jahre später können wir das Gegenteil behaupten: Jeder junge Mensch, der bei uns heute das Abitur ablegt oder den Realschulabschluss macht, der bekommt eine richtig tolle Ausbildung, und der hat eine riesengroße Perspektive in ganz Ostdeutschland. Das ist der Riesenerfolg, den wir jetzt haben!

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP und der Abg. Hannes Walter [SPD] und Dr. Paula Piechotta [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Wir brauchen niemandem mehr zu sagen: Du musst deine Heimat verlassen. – Nein, wir können jetzt anderen sagen: Kommt zu uns. Bei uns passiert gerade ganz viel, und bei uns in Ostdeutschland hast du eine Zukunft. Deswegen können wir auch stolz auf das sein, was wir erreicht haben; stolz auf das, was die Menschen erreicht haben. Das ist der wesentliche Unterschied zu vor 20 oder 30 Jahren. Wir haben eine richtig gute Zukunftsperspektive. Wir sind jetzt für die Zukunft gut aufgestellt.

Ich will mal ein paar Beispiele nennen. Wir haben die chemische Industrie in Sachsen-Anhalt. Wenn man in Deutschland, in Europa über die chemische Industrie spricht und fragt: „Wo sind denn die großen Zentren in Deutschland?“, dann werden oft Bayer genannt oder BASF. Das ist auch richtig. Aber der größte Chemiepark in Deutschland ist Leuna in Sachsen-Anhalt – 13 Quadratkilometer chemische Industrie, und wir haben noch einige mehr davon.

(Katrin Budde [SPD]: Wer hat es erfunden?)

Noch ein anderes Beispiel: Wenn Sie in Ihrem Leben vielleicht mal die Chance haben, nach New York zu fahren, und Sie stehen vor dem neuen World Trade Center, dann schauen Sie mal nach oben. Das Glas für die ersten 20 Stockwerke kommt aus Sachsen-Anhalt. Hätte ich nie gedacht, dass so was mal passiert. Wir haben ganz viele Hidden Champions.

Ich komme zu einem anderen Thema. Dort oben auf der Tribüne sitzt die Geschäftsführung von SKW Piesteritz, ein großes wichtiges Unternehmen in Sachsen-Anhalt. Das ganze Thema Düngeindustrie wäre ohne SKW Piesteritz für Europa nicht denkbar. Ich weiß, wir haben viel darüber diskutiert, lieber Kollege Kellner. Du bist viel vor Ort, und das finde ich auch richtig gut. Aber manch einem deiner Kollegen musste man erst mal erklären, was da passiert. Hier in Berlin ist man erst dann so richtig wach geworden, als AdBlue knapp wurde, und dann hat man gesagt: Mensch, können die nicht mal zwei, drei, vier Wochen nur AdBlue produzieren? – Das geht rein chemisch natürlich nicht. Deswegen ist es wichtig, zuzusehen, dass wir nicht nur die großen Unternehmen in Sachsen-Anhalt fördern, sondern auch die vielen, vielen Hidden Champions, die Sachsen-Anhalt und Ostdeutschland insgesamt groß machen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP und der Abg. Katrin Budde [SPD])

Wir haben einen großen Transformationsprozess hinter uns. Dieser Transformationsprozess ist nicht von Politikern vollendet worden, sondern von den Menschen, die in Ostdeutschland leben, die fleißig sind, die mutig sind, die selbstbewusst sind. Sie brauchen am Ende des Tages aber eines – das ist die wichtigste politische Währung, und da gibt es im Moment viele Fragezeichen –, nämlich Verlässlichkeit und Vertrauen. Das Thema „Verlässlichkeit und Vertrauen“ – und das sage nicht ich als jemand, der in der Politik tätig ist, sondern das sagt die Bevölkerung – ist derzeit aber mit einem großen Fragezeichen versehen. Wir haben im Moment eine Situation, dass die Mehrheit der deutschen Bevölkerung der Bundesregierung nicht zutraut, dass sie die Zukunftsfragen lösen kann. Das ist ein großes Problem; denn wir benötigen am Ende des Tages Verlässlichkeit und Vertrauen.

Ich will das an zwei Beispielen aus dieser Woche klarmachen. Am Montag um 8 Uhr – da bin ich dem Bundesminister Habeck extrem dankbar; das war meines Wissens der erste Minister, der das überhaupt gemacht hat – waren alle Landesminister in Berlin. Alle sind angereist, waren da und haben über das Thema Klimatransformationsfonds, über das Thema Haushaltssperre und über all die anderen Themen geredet. Es war wichtig, dass wir diesen Termin hatten; aber am Ende des Tages hatten wir keine vernünftige Perspektive. Herr Habeck konnte uns auch nicht sagen, wie es schließlich weitergehen soll. Was haben wir gemacht? Wir haben auf den Dienstag gehofft. Am Dienstag hat der Kanzler hier an dieser Stelle geredet. Das war eine Rede, die er halten wollte als Kanzler der Bundesrepublik Deutschland. Und auch da haben wir uns erhofft, dass es erste Ideen gibt, die wir gemeinsam mit den Ländern diskutieren können.

(Zuruf des Abg. Carlos Kasper [SPD])

Aber auch da gab es, wenn wir ehrlich sind, keine vernünftigen Vorschläge.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich habe gerade ein bisschen zugehört, als ich da auf der Bundesratsbank saß. Aus der SPD wurde immer wieder gefragt: Was ist denn jetzt mit Intel? Kommt denn Intel? – Ich bin überzeugt, dass Intel kommt.

(Carlos Kasper [SPD]: Aber reden Sie mal mit Ihrer Fraktion!)

Wissen Sie, warum ich überzeugt bin, dass Intel kommt? Der Kanzler hat das klar zugesagt.

(Sören Pellmann [DIE LINKE]: Das ist aber viel wert!)

Und auch Herr Schneider hat es gerade gesagt: Das ist gerade das wichtigste und größte Projekt in Europa. Wenn dieses Projekt scheitert, dann ist auch die gesamte Regierung in Deutschland gescheitert.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Deswegen wird Intel kommen.

(Carlos Kasper [SPD]: Aber Ihre Fraktion steht ja nicht dahinter!)

Um Intel mache ich mir jetzt gerade nicht die Sorgen. Ich mache mir gerade Sorgen um die mittelständische Wirtschaft.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

In dem Moment, wo ich hier rede, kriege ich Rückmeldungen aus meinem Ministerium, dass die Meldungen aus dem Bundesministerium zur GRW so lauten, dass wir erst mal keine Förderbescheide mehr ausgeben dürfen für die nächsten Monate.

(Katrin Budde [SPD]: Aber das kennt Sachsen-Anhalt doch gut! Der letzte Haushalt ist ein halbes Jahr zu spät gekommen! Ohne Verfassungsgerichtsurteil! Ganz kleine Brötchen backen!)

Das heißt, für die nächsten Monate habe ich im Zweifelsfall – es sei denn, wir haben jetzt bald eine Lösung – das Problem, dass ich mittelständischen Unternehmen sagen muss: Weil hier eine Haushaltssperre herrscht, weil die Bundesregierung den Haushalt im Moment nicht in den Griff kriegt, können wir keine Unterstützung mehr geben. – Was ist das denn für eine Aussage für die mittelständische Wirtschaft in Deutschland? Das geht nicht nur mir in Sachsen-Anhalt so, das geht gerade jedem Wirtschaftsminister in ganz Deutschland so. Das heißt, wir brauchen hier schnelle Lösungen. Darum bitte ich auch die Bundesregierung: Arbeitet da intensiv auch mit den Bundesländern zusammen. Wir sind jederzeit bereit, auch nach Berlin zu kommen. Wir wissen auch, dass wir gemeinsam Lösungen suchen müssen. Das werden wir auch, so denke ich, schaffen. Aber die Bundesregierung ist im Moment gefordert, den ersten Schritt zu machen. Das hat sie bisher nicht gemacht.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich will noch einen anderen Punkt ansprechen, der mir sehr wichtig ist: Das ist die Außendarstellung, und zwar außerhalb Deutschlands, außerhalb Europas. Es geht nicht nur um Investoren. Mein Land Sachsen-Anhalt wird in den nächsten 10, 15 Jahren 300 000 Menschen verlieren, die in ihren wohlverdienten Ruhestand gehen. Wir werden es nicht schaffen, sie durch Geburten bei uns zu ersetzen. Wir brauchen eine Zuwanderung in den Arbeitsmarkt aus dem Ausland. Wenn die aber sehen, wie es hier im Moment aussieht, und wenn die sagen: „Mensch, ist das hier überhaupt noch so, wie wir Deutschland kennen? Hat dieses ‚made in Germanyʼ eigentlich noch Substanz?

(Carlos Kasper [SPD]: Gut, dass wir das Fachkräfteeinwanderungsgesetz auf den Weg gebracht haben!)

Können wir uns dafür entscheiden, für eine lange Zeit, vielleicht für immer nach Deutschland zu gehen, um hier zu arbeiten, um hier unser Leben auch mit unseren Familien zu verbringen?“, dann stehen dem im Moment viele große Fragezeichen entgegen. Auch deshalb brauchen wir hier eine verlässliche, eine klare Politik aus dem Deutschen Bundestag, von der Bundesregierung, von Ihnen als regierungstragende Fraktionen. Das ist enorm wichtig.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Abschließend noch einen Satz. Manchmal wird den Ostdeutschen gesagt: Na ja, gerade beim Thema „Klima- und Umweltschutz“, da seid ihr vielleicht ein bisschen skeptischer als andere. – Das stimmt überhaupt nicht.

(Beifall der Abg. Sepp Müller [CDU/CSU] und Dr. Paula Piechotta [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Die wesentlichen Ziele, die die Bundesrepublik Deutschland in den letzten 30 Jahren erreicht hat, sind deshalb erreicht worden, weil sie in Ostdeutschland vorangebracht wurden.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP sowie der Abg. Dr. Paula Piechotta [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Das ist der Hintergrund. Die Leute sagen: Wir haben ja schon einen riesigen Transformationsprozess hinter uns. Auch diesen Transformationsprozess werden wir gemeinsam weiter mitgestalten. Aber es braucht Verlässlichkeit. – Und diese Verlässlichkeit muss vom Bund kommen, sie muss von den Ländern kommen, und sie muss von den Gemeinden kommen. Mindestens auf Bundesebene steht seit den letzten Tagen ein großes Fragezeichen dahinter.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Für die SPD-Fraktion hat das Wort die Kollegin Katrin Budde.

(Beifall bei der SPD und der Abg. Dr. Paula Piechotta [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7604395
Wahlperiode 20
Sitzung 141
Tagesordnungspunkt Aktuelle Stunde: Industriestandort Ostdeutschland
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